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Über Bezahlonkels und den Kern des Evangeliums
18. März 2012
Letzte Woche habe ich in der Zeitung gelesen: Über 8 Millionen Philippinos arbeiten im Ausland und versuchen auf diese Weise, sich oder ihre Familien durchzubringen. Es gibt auf den Inseln einfach nicht genug Arbeit für alle. Häufig sind es Familienväter, die im Ausland arbeiten und Geld nach Hause schicken. Da kann es schon einmal vorkommen, daß es Ärger gibt, wenn sie heimkommen: Streit um die Erziehung der Kinder zum Beispiel, die sie sich ganz anders vorgestellt hatten. Durch die Ferne sind sie zu Bezahlonkeln geworden, deren Geld gern genommen, denen aber kein wirklicher Einfluß zugestanden wird. Nun ist dieses Familienmodell buchstäblich aus der Not geboren und nicht ideal; freilich gibt es auch hier in Deutschland ein großes Heer von Bezahlonkeln. Zumeist hat es diese zwar nicht durch wirtschaftliche Not ins Ausland verschlagen, sondern sie wurden aus ihren Familien herausgedrängt und von Familienrichtern dazu verurteilt, für den Unterhalt ihrer Familie zu zahlen, ohne aber deren Geschicke wirklich steuern zu dürfen.
All das hat mich zu dem Gedanken veranlaßt, daß auch viele Christen Gott so behandeln: Wie einen fernen Vater, ja einen Onkel in Übersee, der dafür verantwortlich ist, unsere Rechnungen zu begleichen, uns aber ansonsten möglichst nicht dazwischenreden möge.
Deswegen wird in der christlichen Verkündigung auch in so unproportionalem Maße auf der Frage der Vergebung der Schuld herumgeritten: Genau dafür nämlich räumt man Gott in seinem Leben gerade noch Zuständigkeit ein. Man lebt, wie man will, Gott vergibt und bezahlt. So zu leben, daß es von Vornherein weniger zu vergeben gäbe, wird als »Gesetzlichkeit« diskreditiert. Nicht, daß Schuldbereinigung nicht wichtig wäre. Aber man könnte fast zu dem Eindruck kommen, daß die Frage nach der Vergebung der Schuld der Kern des Evangeliums wäre — und mitunter wird dies dem Volk sogar geradeheraus so verpredigt. Die Schuldfrage ist aber nicht der Mittelpunkt des Evangeliums. Wer das behauptet, macht den Weg zum Ziel. Der Kern des Evangeliums ist es, mit Jesus zusammen gestorben zu sein und ihm dadurch gleichgestaltet zu werden. Die Bereinigung der Schuldfrage ist nur die notwendige Voraussetzung, die diese Gleichgestaltung ermöglicht. Viele Christen bleiben aber dort stehen und freuen sich ihrer bereinigten Vergangenheit, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß es eigentlich um ihre Gegenwart und Zukunft geht. Das ist jedoch die beste Voraussetzung dafür, wieder in das Vergangene zurückzufallen.
Es ist freilich viel bequemer, sich noch nach Jahrzehnten des Christseins mit der Vergebung längst vergessener Schuld zu befassen, statt sich der geistlichen Bewältigung der Gegenwart zu stellen. Aber: Wenn wir mit Jesus gestorben sind, dann sind wir eben nicht nur für unsere Vergangenheit tot, sondern auch für unsere Gegenwart — auch heute lebe nicht ich selbst, sondern der Christos in mir (Gal. 2, 20).
Viele meinen jedoch, mit dem Ausräumen ihrer Vergangenheit eine ausreichende Dosis Christentum abbekommen zu haben. Die Gegenwart wollen sie denn doch lieber nach eigenem Ermessen planen und bewältigen. Und so machen sie Gott zu einem Bezahlonkel: Er ist weit weg, er hat durch Jesus die Rechnung bezahlt, ja gut, das mußte er schließlich, dafür kann man ihm sonntags auch mal danke sagen, aber sich heute wirklich dreinreden lassen: Nein.