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Kind trinkt mit


By Geier - Posted on 09 September 2010

9. September 2010

 

Heute war der »Tag des alkoholgeschädigten Kindes«. Tag des was?! Ja, richtig gelesen. Tag des alkoholgeschädigten Kindes. Dabei geht es hier weniger um die immer jüngeren Jugendlichen, die durch Alkoholmißbrauch auffallen, sondern um die Kinder, die bereits mit alkoholbedingten Schäden geboren werden. Fast dreißig Kinder am Tag, etwa zehntausend im Jahr, werden in Deutschland mit Schädigungen geboren, die auf Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft zurückgehen. Solche Schäden können in allen Arten und Abstufungen auftreten, von Ungeschicklichkeit, Verhaltensauffälligkeiten, Wachstumshemmungen und Entstellungen (z. B. recht typischen Gesichtsverformungen) bis hin zu inneren und äußeren Körperbehinderungen und geistiger Behinderung. Bei etwa jedem fünften betroffenen Kind sind die Schäden sehr schwer — ohne Aussicht auf Heilung.

FAS, das »Fetale Alkoholsyndrom«, ist eine der häufigsten Ursachen für geistige Behinderungen. Trotzdem ist das öffentliche Bewußtsein für das Problem eher gering. Alkohol ist die legale Droge mit der höchsten sozialen Akzeptanz. Selbst eine gesellschaftliche Sensibilität, wie sie etwa beim Thema Alkohol und Autofahren durchaus vorhanden ist, fehlt weitgehend. Dabei können schon relativ geringe Mengen Alkohol in der Schwangerschaft zu irreversiblen Schädigungen des Kindes führen, besonders in den ersten Wochen, wenn eine Schwangerschaft oft noch gar nicht wahrgenommen wird. Da um die achtzig Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter regelmäßig Alkohol trinken, ist die statistische Wahrscheinlichkeit sehr hoch, ein Kind schon in seinen ersten Lebenswochen zu schädigen. Trinkt die Mutter, ist der Blutalkoholspiegel beim Kind sogar zeitweise höher als bei ihr selbst, da beim Kind die Leber, die ja den Alkohol abbaut, noch nicht ausgebildet ist. Das Kind nimmt den Alkohol zwar unverzüglich mit der Mutter auf, baut ihn aber viel langsamer ab, ist also seiner Wirkung länger ausgesetzt als die Mutter.

Die »Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung« warnt deshalb: »Was viele Frauen nicht wissen: Schon geringe Mengen Alkohol können unheilbare Schädigungen des Kindes nach sich ziehen. Einen Grenzwert für unbedenklichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft gibt es nicht. Daher sollten schwangere Frauen grundsätzlich auf Alkohol verzichten, am besten schon, wenn eine Schwangerschaft geplant ist.«

Schwächer ausgeprägte Schäden werden als FAE, »Fetale Alkoholeffekte« bezeichnet. Tragisch ist, daß sowohl FAE als auch FAS häufig gar nicht diagnostiziert werden, weil bestimmte Schwierigkeiten erst im Verlauf der Kindheit sichtbar werden, und, wenn überhaupt behandelt, nicht mehr in Beziehung zu ihrer Ursache gesetzt werden. Dann werden Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten unter Umständen dem Kind zugerechnet, weil niemand in seiner Umgebung weiß, daß sein Nervensystem unheilbar alkoholgeschädigt ist.

Dr. Reinhold Feldmann von der Universitätskinderklinik Münster hat entdeckt, daß FAS sogar Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen hat. So hat Wilhelm Busch  in seinen bekannten Geschichten um Max und Moritz den zweiten der Knaben als typisches FAS-Kind portraitiert. Sowohl die Gesichtszüge des Moritz tragen klassische Merkmale einer FAS-Schädigung als auch sein Verhalten. Feldmann beschreibt, daß Moritz die typischen Verformungen des Gesichts aufweist, die FAS-Kinder mehr oder weniger deutlich kennzeichnen: Die kleinen Augen mit den schmalen Lidspalten, eine aufgeworfene Nase mit verkürztem Rücken, der verlängerte Abstand zwischen Nase und Oberlippe, das schmale Oberlippenrot. Im Profil fallen bei Moritz die schwache Ausprägung von Lippenwulst und Kinnpartie auf. Aber auch sein Sozialverhalten ist beispielhaft für ein FAS-Kind: Als typischer Mitläufer überläßt er Max die Initiative. Seine Arglosigkeit und Verführbarkeit läßt ihn auf einen falschen Freund hereinfallen, der mit erheblicher krimineller Energie als Planer und Initiator der Streifzüge der beiden Knaben auftritt. Die eigene Einsichtsfähigkeit von Moritz bleibt hingegen begrenzt. Dr. Feldmann bemerkt dazu:

»Wilhelm Busch beschreibt die Delikte von Max und Moritz, wobei er zwischen dem aktiven Handeln von Max und dem Mitläufertum von Moritz bereits gut zu unterscheiden wusste. Zu dem Hühnerdiebstahl schreibt Busch: ›Max hat schon mit Vorbedacht eine Angel mitgebracht.‹ Max, nicht Moritz, handelt mit Vorbedacht. Moritz plant sein Handeln nicht. Vielmehr lässt er sich vom umtriebigen Max zum Mitmachen verleiten. Moritz ist sichtlich erfreut, dass Max ihn mitnimmt und er bei dem Streich ›dabeisein‹ darf. Auch bei anderen Streichen, die sich Max ausdenkt, darf Moritz mittun. Und wieder freut er sich riesig, dem Max hinterherlaufen zu dürfen und am Streich teilzuhaben. Dabei denkt Moritz sicherlich nicht darüber nach, welche Konsequenzen sein Verhalten für ihn selbst oder für andere haben wird. Wie anderen Kindern mit FAS gelingt es Moritz nicht gut, seine Freizeit selbst zu gestalten. Er folgt anderen Kindern und macht mit, was die anderen vorschlagen. Sagt Max: ›Wenn Du mein Freund sein willst, musst Du mit mir Brezeln klauen!‹ dann wird Moritz meist folgen, ja sogar stolz darauf sein. In dem Bemühen, anderen Kindern nachzulaufen und mitzubekommen, was sie tun, hängen sich Kinder mit FAS nicht selten wortwörtlich an die ›Rockschöße‹ der aktiven Kinder. Wilhelm Busch hat auch das genau beobachtet und dokumentiert.«

Auch im Umgang mit Moritz sieht Dr. Feldmann ein typisches Problem von FAS-Kindern: Das soziale Umfeld der beiden Knaben ist nicht in der Lage, zwischen der willentlichen Bosheit Maxens und dem krankheitsbedingten Verhalten von Moritz zu unterscheiden und verurteilt beide gleichermaßen. Er schreibt:

»Moritz allerdings hat bei allen Streichen sicherlich nicht verstanden, dass er unrecht handelt oder nur, dass er als Mitläufer ›genutzt‹ wird. Weil aber das Verhalten von Kindern mit FAS oft aussieht, als sei eine ›böse‹ Absicht darin und weil bei ihnen Lob oder Mahnung meist keine Änderung des Verhaltens bewirken, werden Kinder mit FAS von Menschen, die die Erkrankung nicht kennen, oft harsch kritisiert oder bestraft. Da die Kinder und Jugendlichen mit FAS aber aus Konsequenzen nicht gut lernen können, gehen die Bestrafungen ins Leere. Gute Betreuung und Anleitung – zum Beispiel in Pflegefamilien, bei Adoptiveltern oder in geeigneten Einrichtungen – sind vielmehr notwendig, damit die jungen Menschen mit FAS vor fremdem Missbrauch und (stets ungewollten) Gesetzeskonflikten beschützt bleiben.«

 

Genau sagen kann niemand, welche Alkoholmengen zu welchen Schäden führen, da hier neben dem Zeitpunkt der Schädigung offensichtlich auch andere Faktoren wirken. So ist es möglich, daß Zwillinge, die dem Alkoholkonsum ihrer Mutter ausgesetzt sind, in sehr unterschiedlichem Maße geschädigt werden. Sicher ist also wirklich nur Alkoholverzicht.

Auch während der Stillzeit sollte Alkohol gemieden werden. Der Volksglaube, daß Bier dem Stillen förderlich, Knoblauch jedoch abträglich sei, wurde durch eine ältere Studie von Julie Mennella und Gary Beauchamp am Monell Chemical Senses Center vollständig widerlegt: Alkohol führte dazu, daß die Kinder weniger Milch abnahmen, während der Knoblauch sogar dazu führte, daß die Kinder länger und mehr tranken — und keine Koliken bekamen.

Die BZgA informiert z.B. hier, hier und hier zum Thema und stellt hier eine Broschur zum Herunterladen bereit. Ein Artikel von Jörg Blech über die Folgen von FAS findet sich hier.

Das Zentrum für Menschen mit angeborenen Alkoholschäden der Berliner Charité betreibt hier ein Blog, wo sich auch die Kontaktdaten zum FASD-Zentrum der Charité finden, und ein Spirituosen- und Weinkonzern unterstützt die Initiative »Mein Kind will keinen Alkohol«. Die Selbsthilfegruppe FASworld ist hier zu finden und ein Artikel der Pharmazeutischen Zeitung hier. Der citierte Dr. Feldmann von der FAS-Ambulanz Münster betreibt hier eine Netzseite mit umfang- und kenntnisreichen Informationen.

 

Bearbeitete Versionen dieses Artikels sind erschienen in den Zeitschriften »factum« 5/11 und »ethos« 4/12.

 

 

 

Nachtrag 2. 5. 11: In der »National Geographic« vom Februar 1992 ist ein Artikel von George Steinmetz zum Thema erschienen, der mit eindrücklichen Bildern versehen ist und hier (englisch) nachgelesen werden kann.

 

 

 

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