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Kinder-Geburts-Tag


By Geier - Posted on 04 März 2012

4. März 2012

 

Nachdem ich im Juni 2009 den gewaltsamen Tod des Abtreibungsarztes Tiller als »postnatale Spätabtreibung« bezeichnet hatte, gab es doch tatsächlich (wenn auch nur sehr vereinzelt) Leser, die das cynisch fanden. Dabei ist es zwar gesellschaftlich üblich, ein pränatales Umbringen als Abtreibung, ein postnatales hingegen als Mord zu bezeichnen, tatsächlich aber ist der Unterschied ein rein quantitativer, kein qualitativer: Tot ist tot, und der Zeitpunkt der Geburt als Stichtag für ein erlaubtes oder unerlaubtes Umbringen ist reine Willkür. Die wachstümliche Entwicklung des Menschen beginnt lange vor der Geburt und ist lange nach der Geburt noch nicht abgeschlossen.

Ausgerechnet radikale Abtreibungsbefürworter haben diese schlichte Tatsache nun ausdrücklich anerkannt, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen: 

In einem Artikel für das »Journal für Medizinethik« stellen die Autoren Alberto Giubilini (Universität Mailand) und Francesca Minerva (Universität Melbourne) die Frage: »Nachgeburtliche Abtreibung: Warum sollte das Baby leben?«*. Darauf aufbauend, daß vorgeburtliche Abtreibung ja bereits weitgehend akzeptiert sei, leiten sie aus der Tatsache, daß es kein moralischer Unterschied ist, ein Kind vorgeburtlich oder nachgeburtlich zu töten, die Folgerung ab, daß es demnach in allen Fällen, wo Abtreibung akzeptiert sei, auch gestattet werden solle, Kleinkinder zu töten. Die Gründe, die für eine Abtreibung angeführt werden — Behinderungen des Kindes oder die persönlichen Gründe der Mutter — hätten sich mit der Geburt des Kindes schließlich nicht geändert. Die Autoren benennen eine Reihe von Gründen, die es einer Mutter unerträglich erscheinen lassen könnten, ihr Kind aufzuziehen — zum Beispiel, wenn sie ihren Partner verliert, nachdem sie von ihrer Schwangerschaft erfährt — und erklären:

»Ein ernsthaftes philosophisches Problem entsteht, wenn die selben Bedingungen, die eine Abtreibung gerechtfertigt hätten, erst nach der Geburt bekannt werden. In solchen Fällen müssen wir die Voraussetzungen beurteilen, um zu entscheiden, ob die selben Argumente, die gelten, um einen menschlichen Fötus zu töten, auch ebenso angewandt werden können, um einen neugeborenen Menschen zu töten.«

Um also bei dem Beispiel zu bleiben: Verliert die Mutter ihren Partner im weiteren Verlauf ihrer Biographie, stellt sich ihre Notlage als alleinerziehende Mutter nicht geringer dar als während der Schwangerschaft, folglich steht das Lebensrecht des Kindes wieder zur Disposition.

Im wesentlichen referieren die Autoren Euthanasie-Argumente: Wann ist es für ein krankes Kind unzumutbar, mit seinen Behinderungen zu leben oder wann ist es für die Gesellschaft unzumutbar, diese Behinderungen (und die damit verbundenen Kosten) zu ertragen? Obwohl sie z. B. anerkennen müssen, daß Kinder mit Down-Syndrom und andere Behinderte trotz ihrer eingeschränkten Fähigkeiten oft als glücklich beschrieben werden, behaupten sie:

»Nichtsdestoweniger könnte es eine unerträgliche Last für die Familie sein, ein solches Kind aufzuziehen, und auch für die Gesellschaft insgesamt, wenn der Staat für die Pflegekosten aufkommt. Deswegen ist die Tatsache, daß der Fötus das Potential hat, eine Person zu werden, die ein (zumindest) akzeptables Leben führen könnte, kein Grund, eine Abtreibung zu verbieten. Deswegen argumentieren wir, daß, wenn Umstände, die eine Abtreibung gerechtfertigt hätten, erst nach der Geburt offensichtlich werden, erlaubt sein sollte, was wir ›postnatale (nachgeburtliche) Abtreibung‹ nennen.«

Um die Tötung zu rechtfertigen, wird also zunächst dem Kind die Persönlichkeit abgesprochen. Es habe nur »das Potential, eine Persönlichkeit zu werden«, sei aber keine. Dies wird konsequenterweise für das ungeborene wie für das geborene Kind behauptet, was natürlich die Frage aufwirft, in welchem Alter denn nach Meinung der Autoren aus dem bloßen »Potential, eine Persönlichkeit zu werden« sich eine tatsächliche Persönlichkeit entwickelt haben könnte. Wenn das Kind abgestillt ist? Bis zur Einschulung? Bis es durch Berufstätigkeit und Steuerzahlungen nachgewiesen hat, daß es ein nützliches Mitglied der Gesellschaft ist? Die Autoren lehnen es jedenfalls ausdrücklich ab, einen Zeitpunkt zu benennen, ab dem ihnen eine Tötung des Kindes nicht mehr gerechtfertigt erschiene.
Um der geneigten Öffentlichkeit zu vermitteln, das es sich bei dem Kinde noch nicht um eine »richtige« Person handle, schlagen sie vor, den Begriff der »postnatalen Abtreibung« dem Begriff »Kindstötung« vorzuziehen. Jedenfalls folgen sie, indem sie die Tötung des Kindes dadurch rechtfertigen, daß sie diesem die eigene Persönlichkeit absprechen, dem klassischen Prinzip ideologisch begründeter Morde, das ich erst vor wenigen Tagen hier beschrieben hatte. Giubilini und Minerva konstruieren dazu einen Unterschied zwischen dem »Herbeiführen des Todes einer existierenden Person« und dem »Versagen, eine neue Person zu erschaffen«.

Ein katholischer Blogger, der dieser Zumutung nur noch mit Sarkasmus begegnen mag, hat als Alternativen zum Begriff »postnatale Abtreibung« weitere Euphemismen vorgeschlagen:

· Proaktive Kohlendioxideinsparung
· Biographieabwicklungsbeschleunigung
· Singuläre Elterngeldreduktion
· Freiwillige Sorgerechtsaufgabe
· Ambitionierte Aufzuchtsunterbrechungsmaßnahme
· Frühzeitiger fiskalfreundlicher Freibetragsverzicht

Der Begriff »sozialverträgliches Frühableben« war ja schon für den unzeitigen Rentnertod reserviert. Daß der Gedanke der Bevölkerungsreduktion zur Kohlendioxideinsparung schon lange keine Satire mehr ist, hatte ich 2010 hier und hier gezeigt.

Die Autoren wollen weiters auch den Begriff »Euthanasie« nicht verwendet wissen, weil, so behaupten sie, bei der Euthanasie das beste Interesse des Getöteten im Mittelpunkt stünde, was bei der »postnatalen Abtreibung« nicht zwangsläufig der Fall sein müsse. An dieser Stelle drängt sich freilich jenseits aller Ethik die Frage nach dem bloßen wissenschaftlichkeit Wert des Artikels und der Allgemeinbildung der Autoren auf: Wie bitte kann man ernsthaft auf die Idee kommen, daß bei Euthanasie regelmäßig das tatsächliche oder auch nur behauptete Interesse des Getöteten im Mittelpunkt stünde? Sind die Autoren der wörtlichen Bedeutung von Euthanasie (»gutes Töten«) auf den Leim gegangen, nicht wissend — oder nicht wissen wollend — daß Euthanasie ein ebensolch kruder Euphemismus ist wie der, den sie gerade für ihre Kindstötungspropaganda einführen wollen und der mit der Realität kaum Berührungspunkte hat? Was tut jemand, der solch rudimentäre Kenntnisse der neueren Medizingeschichte preisgibt, im universitären Lehrbetrieb? Gar jeder interessierte Laie weiß, daß bei Euthanasiebestrebungen immer ökononische Erwägungen eine Rolle spielen, wenn nicht überhaupt im Vordergrund stehen:

 

Das Persönlichkeitsrecht sprechen Giubilini und Minerva Kindern dann ab, wenn sie noch keine eigenen Zielsetzungen formulieren und den Verlust der eigenen Existenz noch nicht als solchen begreifen könnten. Sie behaupten:

»Der moralische Status eines Kindes entspricht dem eines Fötusses in dem Sinne, daß beiden die Voraussetzungen fehlen, die es rechtfertigen würden, ihnen ein individuelles Lebensrecht zuzusprechen. Beide, Fötus und Neugeborener, sind sicherlich menschliche Wesen und potentielle Personen, aber keine ›Persönlichkeiten‹ in dem Sinne, daß sie ein moralisches Recht hätten, zu leben. … Das bloße Menschsein ist an sich kein Grund, jemandem ein Recht zu leben zuzusprechen.«

Solange ein Mensch keine Ziele habe, würden ihm diese ja auch nicht vorenthalten, wenn man ihn umbrächte, und in den ersten Lebenswochen könne ein Mensch keine Ziele entwickeln. Auch diese Behauptung ist absurd. Selbst wenn es nur die unmittelbare, kurzfristige und existentielle Zielsetzung eines Neugeborenen ist, z. B. gestillt zu werden oder zu schlafen, schmerzfrei zu sein, angemessenen Temperaturen ausgesetzt und menschlicher Zuwendung teilhaftig zu werden, so sind diese Zielsetzungen nicht grundsätzlich verschieden von den fundamentalen Bedürfnissen und Zielsetzungen des adulten Menschen, auch wenn sie naturgemäß weniger differenziert sind. Wollen die Autoren aber behaupten, daß ihr Wunsch, sich mittels Veröffentlichung windiger Artikel von zweifelhaftem wissenschaftlichen Wert ein Leben in Luxus oder zumindest Wohlstand zu ermöglichen, ihr Lebensrecht begründet, der Wunsch des Neugeborenen, den nächsten halben Tag satt und zufrieden zu überleben, jedoch nicht? Tatsächlich verhält es sich mit den Zielsetzungen des Menschen wie mit seinen organischen Funktionen: Sie wachsen, entwickeln und differenzieren sich, aber eben quantitativ, ohne einen grundsätzlichen qualitativen Sprung, der das Menschsein von einer Vorform des Menschseins abgrenzen würde.

Ohne eine solche künstliche Grenze bricht aber das gesamte Argumentationsgebäude des Artikels zusammen. Die Unterscheidung in »Persönlichkeit« und »nur potentielle Persönlichkeit« ist zwingend nötig, um den utilitaristischen Ansatz zu rechtfertigen:

»Dem sogenannten Recht des Individuums (eines Fötus oder Neugeborenen) sein Potential zu entwickeln, welches einige verteidigen, sind die Interessen der gegenwärtigen Menschen (Eltern, Familie, Gesellschaft) übergeordnet, ihr eigenes Wohlergehen zu verfolgen, denn, wie wir dargelegt haben, können Menschen, die dies nur potentiell sind, nicht dadurch verletzt werden, daß sie nicht in Existenz gebracht werden. Das Wohlergehen der gegenwärtigen Menschen könnte durch ein neues (auch durch ein gesundes) Kind bedroht werden, welches Kraft, Geld und Fürsorge benötigt, die in seiner Familie gerade knapp sein könnten. In einigen Fällen kann diese Situation durch eine Abtreibung behoben werden, aber in einigen anderen Fällen ist dies nicht möglich. In diesen Fällen — da Nicht-Personen kein moralisches Recht haben, zu leben — gibt es keinen Grund, die postnatale Abtreibung zu verdammen.«

Jetzt ist die Katze doch mehr oder minder aus dem Sack: Als Rechtfertigung, einen Säugling umzubringen, soll allein die Unbequemlichkeit ausreichen, die er seinen Eltern verursacht, ein Argument also, das auf buchstäblich jedes Kind zutrifft, denn selbst Eltern, die in großem Wohlstand leben, werden durch die Anforderungen, die ein Kleinstkind an seine Umwelt stellt, schnell an das Ende ihrer Kräfte und zumindest zeitweise auch ihres persönlichen Wohlergehens gebracht. Dies hinzunehmen und tapfer zu ertragen hat bisher als Bestandteil des Generationenvertrages gegolten. Giubilini und Minerva aber siedeln das Lebensrecht des Kindes so niedrig an (wörtlich: »nahe Null«), daß sie selbst den Gedanken an eine Adoption verwerfen mit dem Argument, daß die Weggabe des Kindes zur Adoption die natürliche Mutter psychischem Streß aussetzen könne.

Ausdrücklich verweisen die Autoren, um ein allgemeines und unveräußerliches menschliches Lebensrecht zu verneinen, auf die Akzeptanz von Abtreibungen und die Vernichtung von »überzähligen« Embryonen in der Stammzellenforschung. Damit haben sie nachträglich die Befürchtungen von Lebensschützern bestätigt, die immer davor gewarnt haben, daß die libertäre (»embryonenverschleißende«) Ausgestaltung der Stammzellenforschung einen Dammbruch in Bezug auf die weitere Aushöhlung des Lebenschutzes bewirken würde. Daß professionelle Medizinethiker — und nicht etwa die üblichen durchgeknallten feministischen Aktivisten — daraus solch un-verschämte Forderungen ableiten würden, haben aber vermutlich auch die meisten Lebensschützer so schnell nicht erwartet.

So widerwärtig solche Argumentation einerseits ist, muß man andererseits doch anerkennen, daß sie — im Gegensatz zu den Nebelkerzen, die Abtreibungsbefürworter sonst werfen — in der ethischen Gleichsetzung von ungeborenem und geborenem Kind konsequent und dadurch erfreulich entlarvend ist. Sie zeigt, daß der Kinder-Geburts-Tag nicht die entscheidende Zäsur ist, die über das Lebensrecht des Kindes entscheiden könnte und daß der utilitaristische Ansatz, der den Abtreibungsregelungen der westlichen Civilisation zugrundeliegt, vor nichts und niemandem halt macht, wenn man ihn konsequent weiterverfolgt. Wer allein wegen der potentiellen Unbequemlichkeit eines Kindes fragt: »Warum sollte das Baby leben?« wird diese Frage auch in Bezug auf Kranke, Alte, später auch Kriminelle, Oppositionelle oder auch nur unangepaßte stellen. Mit den Voraussetzungen, die Giubilini und Minerva zugrundelegen, muß man nur ziemlich wenig an den Stellschrauben der Wertmaßstäbe drehen, um immer weiteren Bevölkerungsgruppen das Persönlichkeits- und Lebensrecht zu entziehen.

 

 

Links zum Thema:

 

Zustände wie im Alten Rom: Postnatale Abtreibung bei römischen Prostituierten

 

Eugenik und Euthanasie im 19./20. Jahrhundert: Von Darwin zum Lebensborn

 

 

 

 

 

 

*Nachtrag: Der Artikel ist innerhalb kürzester Zeit vom »Journal of Medical Ethics« aus dem Netz genommen worden.

 

 

Rückblick 1. Lesertreffen

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