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Fremde Federn: Knopf im Ohr


By Geier - Posted on 26 November 2009

26. November 2009

 

Der folgende Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors Adrian Michael Schell. Er ist urspünglich am 10. November auf dessen Blog erschienen. Adrian Michael Schell ist Buchhändler und seit Oktober 2005 in der Ausbildung zum Rabbiner am Abraham Geiger Kolleg in Berlin und an der Universität Potsdam. Er betreut die Kolumne »Ask the Rabbi« auf haOlam.de

 

 

 

 

 

Tätowierungen — Ein neuer Kult?!

Ich mag Tätowierungen und Piercings nicht. Vielleicht bin ich an der Stelle ein wenig altmodisch, aber ich finde, dass unsere Körper ihren eigenen Reiz haben und dass Tätowierungen oder auch Pircings diesen eher entzaubern als verstärken. Vielleicht schwingt in meiner Abneigung auch eine biblische Tradition mit, die sich aus einem klaren Verbot von Einschnitten in die Haut und Tätowierungen ergibt. Es handelt sich im Konkreten um einen Vers aus dem dritten Buch Mose (Vajikra), Kapitel 19:28:

„Und Einschnitte um einen Toten sollt Ihr nicht machen in Euren Leib, und Ätzschriften sollt Ihr an Euch nicht machen. Ich bin der Ewige.“

Bevor wir zu leichtfertig eine Handlung durch die Bibel bestätigen oder ablehnen, sollten wir genau hinschauen. Warum steht der Text genauso in der Heiligen Schrift? Was könnte der Grund dafür sein, dass sich ein biblisches Gebot für oder gegen eine Sache ausspricht?

Zunächst ist immer ein Blick in den Kontext eine hilfreiche Vorgehensweise. Unser Vers taucht im Wochenabschnitt Kedoschim auf. Kadosch (קדש) wird häufig mit „Heilig“ übersetzt. Es ist etwas, dass (von uns Menschen und/oder von G’tt) für G’tt oder für eine heilige Handlung separiert wird. Das konstante Thema des Wochenabschnitt (als Wochenabschnitte bezeichnet man insgesamt 54 Teilabschnitte der Torah, die im Laufe des Jahres nacheinander gelesen werden.) ist dem g’ttlichen Auftrag an Yisrael gewidmet, „Heilig“ zu sein. Die Kapitel 18 bis 20 geben dabei eine klare Vorstellung von dem ab, was Heiligkeit im menschlichen Leben ausmacht. Dabei liegt der Schwerpunkt auf ethischen Verhaltensregeln. Berühmtester Satz in diesem Zusammenhang ist Vajikra 19.18b

„liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich bin der Ewige.“

Viele der Gebote, die wir in diesem Abschnitt finden, werden nicht weiter begründet. Jedoch tragen sie alle eine gemeinsame, sehr interessante „Unterschrift“: Ich bin der Ewige (אני ה’). Dies würde ich dahingehend interpretieren, dass wir diese oder jene Handlung vollziehen, um uns eindeutig zu G’tt zu bekennen; um uns auf seine Seite zu stellen. Heiligung ist demnach ein Bekenntnis zu einer bestimmten Handlungsoption. Häufig ist dies damit verbunden, dass wir uns dadurch bewusst von anderen Menschen oder üblichen Vorgehensweisen unterscheiden.

Und so glaube ich auch, dass uns diese Definition wieder zurück zu unseren Tattoos bringt. Es ist keine unbekannte Tatsache, dass Tätowierungen benutzt wurden und werden, um Gruppenzugehörigkeiten äußerlich zur Schau zu stellen. Unangenehmes Beispiel sind die „Hass-Tattoos“ von Neonazis und die Pervertierung durch die Nazis, die die Nummerntätowierungen für KZ-Häftlinge nicht nur dazu verwendeten, eine Gruppe von Menschen dauerhaft zu kennzeichnen, sondern auch die Identität der Opfer auf die Gruppenzugehörigkeit zu reduzieren. Angenehmere Beispiele sind Namen von geliebten Menschen. Über das Tattoo soll die ewige Verbundenheit demonstriert werden. Letztendlich haben wir im Judentum ein eigenes, vergleichbares Beispiel dafür. Die Beschneidung, als ewiges Zeichen des Bundes.

Man kann also davon ausgehen, dass zu biblischen Zeiten durch Zeichen in der Haut eine solche Verbundenheit ausgedrückt werden sollte. Die genauen Beschreibungen der verbotenen Eingriffe in unserem Vers verweisen meiner Meinung nach nicht auf ein generelles Verbot, sondern auf die Praxis anderer Kulte, von denen sich die Yisraeliten unterscheiden sollten. Lukian von Samosata beschreibt in seiner Darstellung über die syrische G’ttheit Atargatis (Dea Syria), dass die Priester und die Anhänger dieses Kultes Einschnitte an den Armen hatten. In Verbindung mit der Trauer um Tote ist das Einritzen in die eigene Haut eine sehr wahrscheinliche Praxis innerhalb des Baal-Kultes gewesen (Talmud Bavli, Traktat Makkot 21a). Das Verbot in der Bibel und auch die spätere Rezeption durch die Rabbiner will eine klare Abgrenzung zu den anderen Kulten erreichen.

Es ist naheliegend, mir jetzt entgegenzuhalten, dass es heute ja keinen Baal-Kult mehr gibt und man daher auch nicht Gefahr laufe, sich einem fremden G’tt zu verschreiben. Aber mal ganz ehrlich: Kann man sich da wirklich so sicher sein? Viele Motive die wir heute als Tattoos vorfinden haben eine religiöse Bedeutung, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Vielleicht nicht in unserer Kultur, aber in der indischen, oder in der polynesischen usw. Und letztendlich ist die Modeerscheinung Tattoo selbst schon zu einem Kult geworden.

Letzten Endes kann nur jeder für sich selbst entscheiden, ob man ein Tattoo haben will und was es für einen bedeutet. Im Zweifelsfall, und das ist vielleicht der jüdische Ratschlag an dieser Stelle, sollte man es lieber lassen.

 

Soweit A. M. Schell. Da ich seine Herleitung für sehr nachvollziehbar halte, habe ich ihn um die Genehmigung gebeten, den Artikel hier einstellen zu dürfen (und wer sich bereits im zweiten Satz zu seiner Altmodischkeit bekennt, ist einem Fossil wie mir ja sowieso schon mal sympathisch).

Was die Folgerungen angeht, so würde ich freilich zu einem strengeren Ergebnis kommen: Sagt Schell »lieber nicht«, so sage ich »keinesfalls«. Neutestamentlich gesehen, kann es natürlich nicht eine Frage eigenen Dafürhaltens sein, ob man sich nun für eine Tätowierung entscheidet oder nicht. Wer des Christos ist, (Gal. 3, 28f) gehört sich nicht mehr selbst und hat hier demzufolge auch keinen eigenen Ermessensspielraum. Schell hat deutlich gemacht, daß eine Tätowierung eine Zugehörigkeit ausdrückt. Zugehörigkeit kann aber (auch) im Neuen Bund nur zu Jahweh und seinem Gesalbten ausgedrückt werden, und das geschieht nun mal nicht durch Zeichen im physisch sichtbaren Bereich. Deshalb sind besonders sogenannte »christliche« Tätowierungen abzulehnen, wie sog. »christlicher« gegenständlicher Schmuck — z. B. Kreuze und dergleichen — in anderen Bereichen ja schließlich auch. All das sind Merkmale toter Religiosität, ein »Säen ins Fleisch«, das gemäß Gal. 6, 8 Tod und Verderben hervorbringt.

Tätowierungen können aber nicht nur Zugehörigkeit innerhalb sozialer Verbünde anzeigen, in einer Welt, die sich zunehmend virtualisiert und uniformiert, sind sie auch Mittel der Selbstvergewisserung, der Selbstabgrenzung, des Selbstanspruches, der demonstrierten Individualität. Und auch in dieser Funktion stehen sie dem Evangelium entgegen, das auf Selbstaufgabe und Selbstverleugnung basiert.

Um die Verbindung von Ritzmalen und Baalskult nachzuweisen, muß man übrigens nicht zwangsläufig zum Talmud greifen; man kann diese auch direkt aus der Schrift herleiten: So ritzten sich die Baalspriester in 1. Kön. 18, 28 anläßlich ihrer Konfrontation mit Elijahu.

Ein weiterer Aspekt wäre in der Sache zu bedenken, der mir zum Beispiel auch bei Haarfärbungen auffällt: Wenn ich wirklich überzeugt bin, sehr gut erschaffen zu sein (1. M. 1, 31), kann ich solche nachträglichen Eingriffe schwerlich begründen. Denn entweder sind sie Ausdruck mangelnder Dankbarkeit gegenüber Jahwehs Erschaffen oder Ausdruck des vermessenen Gedankens, es selbst eben doch besser vollenden zu können als der Schöpfer.

 

 

 

Nachtrag 5. 4. 12: Artikel über die Schädlichkeit von Tätowierfarben

 

 

© Photo: CC Wikipedia / Meena Kadri

 

 

 

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