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Hirnschmelze: Zahlenspiele
24. März 2011
Es ist immer wieder eigenartig, zu sehen, wie irrational doch Lebensrisiken eingeschätzt werden. Mitunter ist es auch tragisch. An der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl sind knapp 200 Menschen gestorben und sie hat den Rang eines internationalen Traumas erlangt. Im deutschen Straßenverkehr sind allein im letzten Jahr 3.657 Personen tödlich verunglückt. Eine grundsätzliche Diskussion, die der gegenwärtigen Nukleartechnikdiskussion vergleichbar wäre — also in der Art, ob das Risiko der automobilen Beweglichkeit für den Menschen überhaupt beherrschbar sei — gibt es freilich nicht. Stattdessen wird pragmatisch in kleinen Schritten das Risiko reduziert, indem man die Sicherheit von Fahrzeugen nach und nach verbessert. An das — durchaus erhebliche — Restrisiko haben wir uns gewöhnt, wir haben es akzeptiert.
Gerald Mackenthun schreibt zum Thema:
Die verzerrte Wahrnehmung in den Medien verstärkt eine von Angst getragene Risikointerpretation in der Bevölkerung. Laien gehen gefühlsbetont mit Risiken um, anders als Experten aus dem Fach. Der Durchschnittsbürger akzeptiert Risiken, die aus der eigenen Lebensführung resultieren, nicht aber vermutete Umweltgefahren, die ihm von außen aufgezwungen werden. Drachenfliegen erfreut sich trotz seiner Gefährlichkeit steigender Beliebtheit. Eltern rauchen, fürchten aber, ihr Schrank könnte Formaldehyd ausströmen. Viele sorgen sich um Asbest und grüne Gentechnik, doch die hauptsächlichsten Gesundheitsrisiken sind Rauchen, Übergewicht, mangelnde Bewegung und Diabetes. Im Schnitt stirbt ein Raucher 2250 Tage früher, als er es statistisch müsste, durch das Autofahren verlieren Verkehrsteilnehmer rechnerisch 207 Lebenstage, doch der Betrieb von Kernkraftwerken schlägt mit nur noch statistisch benennbar 0,02 verlorenen Tagen zu Buche.
Der Spiegel wußte vor fünf Jahren von dem Flüchtlingsstrom zu berichten, den das Reaktorunglück von Tschernobyl ausgelöst hatte — nicht etwa aus der Ukraine, sondern aus Deutschland. Es hat damals eine Auswanderungswelle aus Angst vor radioaktivem Niederschlag gegeben, nach Südeuropa hauptsächlich. Einer der Auswanderer, von denen etliche im Süden geblieben sind, ist an Hautkrebs erkrankt — nicht von irgendwelcher Radioaktivität, sondern von der Sonneneinstrahlung in Portugal.
Bei den Terroranschlägen vom 11. 9. 2001 sind 268 Flugzeuginsassen ums Leben gekommen. In den Folgemonaten sind deshalb viele Amerikaner aus Furcht lieber mit dem Auto gefahren, statt zu fliegen. Im Jahr nächsten Jahr starben daraufhin in den USA 1.500 Menschen mehr im Straßenverkehr als sonst — also fünf bis sechs mal mehr, als in den Flugzeugen umkamen.
Die durchschnittlich acht täglichen (!) Toten im chinesischen Kohlebergbau hatte ich schon an anderer Stelle erwähnt. Wenn die absoluten Zahlen bisheriger tatsächlicher — nicht hypothetisch möglicher — Todes- und sonstiger Unfallopfer der Maßstab für den Grad der Sicherheit einer Technologie sind, müßten wir dringend unsere Kohlekraftwerke abschalten und neue Kernkraftwerke bauen. Allerdings: Für die Kohle sterben andere, die Ängste gegenüber der Nucleartechnologie aber betreffen uns selbst. Redlich ist die Diskussion, wie sie derzeit geführt wird, jedenfalls nicht. Zwar wird auf das große Gefährdungspotential der Nucleartechnik verwiesen, bei anderen Technologien wird aber stillschweigend unterstellt, daß man ihre Gefahren beherrschen könne — was angesichts zehntausender Toter im Kohleabbau jedoch als empirisch widerlegt gelten muß. Letztlich ist die Sicherheit der Kohle ebenso bloß theoretischer Natur wie Atomkraftgegner dies von der Sicherheit der Kernkraftwerke behaupten. Aber keiner der Diskutanten mag zugeben, daß man sich lieber mit ein paar tausend Toten in China arrangiert als mit einem hypothetischen Unfall vor der eigenen Haustür.
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Eine ganze Menge ist auch ziemlich viel.
Photo: © Geier