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Steine schmeißen?


By Geier - Posted on 01 März 2010

1. März 2010

Nein, ich mag diesen Unsinn wirklich nicht mehr hören: Nachdem die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende betrunken eine rote Ampel überfahren hatte, erlebte der Satz »Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein« eine unglaubliche Konjunktur. Kaum ein Feuilletonist, Kommentator oder Leserbriefschreiber, der nicht auch seine vermeintliche Bibelkenntnis ausstellen wollte und meinte, ohne diesen Satz auskommen zu können. Nicht einmal im »Spiegel« fehlt er, dem ja nun nicht gerade der Ruf geistlicher Sensibilität vorauseilt.

Was mich zuallererst an diesem Satz stört: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit steht er ja gar nicht in der Bibel. In den älteren Handschriften fehlt die Geschichte mit der nicht gesteinigten Ehebrecherin völlig; Johannes 7, 53 bis 8, 11 sind nach allem, was wir heute wissen können, als spätere Hinzufügungen zur Schrift anzusehen und unterliegen damit dem Urteil von Offb. 22, 18*.
Wie dieser Satz nun aber instrumentalisiert wird, schlägt dem Faß ganz und gar den Boden aus. Kaum erhebt sich irgendwo Kritik im Lande, kommt er zum Einsatz. Er ist eine wahre Wunderwaffe, im christlichen Bereich in seiner universalen Wirksamkeit und Effektivität nur noch mit der Fundamentalismus-, Richtgeist-, Gesetzlichkeits- oder Pharisäertums-Keule zu vergleichen. Man kann mit diesem Satz jegliche Diskussion im Keim ersticken, denn in ihm ist immer der Vorwurf eingeschlossen: »Willst Du etwa sagen, daß Du etwas Besseres bist?« Und das will natürlich keiner; die Mehrheit der Kritiker hat man damit zum verstummen gebracht, weil sie nicht so richtig etwas auf diesen Vorwurf zu erwidern wissen. Schließlich tritt er ja mit dem Anspruch auf, daß »der Herr ja gesagt hat man solle nicht …«. Daß er das wohl überhaupt nicht gesagt hat, habe ich ja oben gerade festgestellt, aber selbst wenn diese Geschichte stattgefunden hätte, wären die daraus gezogenen Folgerungen absurd. Denn Kritik ist nun einmal keine Steinigung. Sie hat nicht die Vernichtung des Kritisierten zum Ziel, sondern seine Zurechtbringung.

Durch die ganze Heilsgeschichte hindurch hat Gott unvollkommene, sündige Menschen dazu benutzt, andere unvollkommene, sündige Menschen zurechtzubringen, schon allein aus dem Grund, da — von Jesus abgesehen — vollkommene, sündlose Menschen nun einmal einfach nicht zur Verfügung gestanden haben. Wer also den Satz »Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein …« in dem Sinne benutzt, daß es ausschließlich das Privileg der Vollkommenen sei, andere zurechtzuweisen (und wenn wir mal ehrlich sind, wird dieser Satz fast ausschließlich in diesem Sinne gebraucht), zeigt damit genau eines: Daß er Zurechtweisung überhaupt und grundsätzlich haßt. Zu solchen sagt Gott:

»Was hast du meine Satzungen herzusagen und meinen Bund in deinen Mund zu nehmen? Du hast ja die Zucht gehaßt und hinter dich geworfen meine Worte.« (Ps. 50, 16f) 

Dieses »Hassen von Zucht« ist das prägende Charakteristikum der Vertreter einer Art von »Christentum«, die meinen, mit »Bekehrung« oder Mitgliedschaft in einer kirchlichen oder freikirchlichen Struktur das Heil ihrer Seele erworben zu haben. Offensichtlich wird also mit diesem Satz »Wer ohne Sünde ist …« von einigen, die eine recht beschränkte Kenntnis der Bibel haben, eine Bibelstelle, die eigentlich gar keine ist, dazu benutzt, Jesus eine Haltung unterzuschieben, die er nie und nimmer vertreten hat, ja welche biblischen Grundsätzen sogar widerspricht.
Denn Jesus ist durchaus kritikfreudig bis hin zur gesunden Polemik. Wenn er einige honorige Mitbürger als »Otterngezücht« oder »übertünchte Gräber« bezeichnet und ihnen sagt, daß sie auf geradem Wege ins Gericht sind, ist das sicherlich menschlich gesehen erst einmal unerfreulicher als alles, was Frau Käßmann in den letzten Tagen in der Zeitung lesen mußte. Und doch war es genau das, was diese Pharisäer in diesem Moment zu ihrer Zurechtbringung brauchten.

Einen weiteren übel mißbrauchten Text finden wir in der Bergpredigt: Wenn Jesus dazu auffordert, daß jeder zuerst den Balken aus dem eigenen Auge ziehen soll, ehe er den Splitter aus dem Auge seines Bruders zieht, so ist dies eine ganz klare Aussage in Bezug auf die Reihenfolge: Erst eigener Balken, dann brüderlicher Splitter. Das Problem ist: Fast immer, wenn heute jemand daherschreit: »Ziehe Du erstmal den Balken aus Deinem Auge!« meint er damit eigentlich: »Taste bloß den Splitter im Auge Deines Bruders nicht an!« Und also geschieht es dann meist auch: Am Ende bleiben Balken und Splitter wo sie sind, statt in der von Jesus verordneten Reihenfolge gezogen zu werden. Das ist das wahrhaft dämonische an diesem humanistischen Terror: Geschützt wird dadurch die Verfehlung, nicht der Verfehler. Dieser wird um die Zurechtweisung betrogen, die er so dringend nötig hätte und marschiert fröhlich weiter ins Gericht.
Wenn da nun wieder ein ganz Schlauer daherkommt und sagt: »Ja, Jesus durfte das, der war ja wirklich selbst ohne Sünde« zeigt er damit nur, daß er seine Bibel nur sehr selektiv kennt. Denn auch die wahrlich nicht sündlosen Apostel waren durchaus nicht zurückhaltender, wenn man nur einmal daran denkt, wie scharf Paulos den Petros zurechtgewiesen hat (Gal. 2, 11ff), wie dieser wiederum mit Ananias und dessen Weib zu verfahren hatte (Apg. 5, 3) oder wie Jakobos gleich mal pauschal seine Leser als Ehebrecher bezeichnet (Jk. 4, 4), damit sich seine Botschaft, daß Freundschaft mit der Welt Feindschaft gegen Gott ist, auch wirklich in ihre Hirne hineinbrennt.

Jesus fordert in Joh. 7, 24 auf, gerecht zu urteilen, und da solches urteilen zu seinem eigenen Aufgabenspektrum gehört, ist es im gegenwärtigen Zeitalter auch zwangsläufig Teil der Aufgaben der Herausgerufenen [G], die ja sein Leib — sein ausführendes Organ also — auf der Erde ist. Wer dieses urteilen — vielleicht auch noch mit Verweis auf Mt. 7, 1 — grundsätzlich untersagen will, zeigt damit, daß er diesen Vers entweder nur irgendwo aufgeschnappt hat oder beim Lesen schon eingeschlafen war, ehe er Vers 5 erreicht hatte.

Es gibt noch einen weiteren Satz, um Zurechtweisung abzubügeln, der steht freilich überhaupt nicht in der Bibel, funktioniert aber auch leidlich. Das ist der Satz »Es gibt Schlimmeres«. Gegen diesen Satz kann man schon deshalb so wenig vorbringen, weil er für sich genommen trotz (oder gerade wegen) seiner außerordentlichen Banalität so völlig unbestreitbar richtig ist. Man findet ja tatsächlich für jedes Übel ein größeres, seit den großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts sowieso. Sinn dieses Satzes ist aber, durch Verweis auf solche namenlose, fernstehende, große Übel zu verhindern, daß das konkrete, heutige, akute Übel beseitigt wird. Das ist übel.

 

* Ja, ja, eine Bibel sollte man schon immer griffbereit haben, wenn man die Geiernotizen liest.

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