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Ein Dienst an der ganzen Gesellschaft: Warum Heimschule gut für Deutschland ist.
12. September 2012
Der folgende Artikel enthält einiges Material aus dem Leserseminar. Ich habe diesen Text gerade für die »factum« aufbereitet, deren nächste Ausgabe ein Schwerpunktthema »Heimschule« beinhalten wird, zu dem auch dieser Artikel (wahrscheinlich unter dem Titel »Die Entmachtung der Familie«) gehören soll. Ich bin sehr dankbar für die Gelegenheit, diese wichtige Thema zumindest in Kurzform den factum-Lesern vorstellen zu dürfen. Regelmäßige Leser der »Geiernotizen« werden wohl den einen oder anderen Textbaustein wiedererkennen, trotzdem schadet es sicher nicht, daß der Text hier noch einmal in dieser Form zu lesen ist. Die nächste »factum« ist ab 4. Oktober erhältlich.
Ich bin kein Heimschulaktivist. All meine Kinder haben öffentliche Schulen besucht. Heimunterricht war für mich immer ein sehr entferntes Randphänomen, keine Möglichkeit, die ich damals ernstlich erwogen hätte. Mit den Jahren habe ich einige Heimschulfamilien kennengelernt, bin ihrem Anliegen mit einigem Wohlwollen begegnet, aber immer noch habe ich der Sache keine größere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich verstanden habe, welch wichtiges Korrektiv die Heimschulfamilien für unsere Gesellschaft sind.
Um das zu begreifen, reicht es nicht aus, die Heimschulbewegung als isoliertes Phänomen, als einen besonderen Bildungsweg zu sehen. Man muß den größeren Zusammenhang erfassen, in den die Kriminalisierung des Heimunterrichts — und auch der Widerstand dagegen — gehört. Die Vergesellschaftung der Bildung ist nur ein kleines Rad im Getriebe von Bestrebungen, die viel weiter reichen: Insgesamt geht es um die umfassende Entmachtung der Familie, wobei der Anspruch des Staates auf Bildung der Kinder nur ein Teil des Ganzen ist. Um dies zu erklären, muß ich etwas weiter ausholen:
Unser modernes Gesellschaftbild bewegt sich zwischen den drei Orientierungspunkten Gott, Staat und Individuum. Das biblische Menschenbild betont hingegen viel stärker eine weitere Gesellschaftsebene: Das Haus, den »Oikos[G]«, die familiäre Verantwortungs- und Lebensgemeinschaft, in der unterschiedliche Begabungen und Verantwortungen einander ergänzen, helfen und ausgleichen. Schwach und stark, mündig und unmündig, erfahren und unerfahren sollen im Oikos als einem Solidarverbund gegenseitiger Ergänzung ein fruchtbares, funktionierendes Ganzes abgeben. Gott sieht den Menschen immer in Beziehung zu dem Haus, dem er zugeordnet ist: Wenn Noah die Weisung erhält, sich mit einer Arche in Sicherheit zu bringen, so gilt dieser Befehl auch für alle, für die Noah Rechenschaft geben muß. Und wenn Josua sagt: »Ich aber, und mein Haus, wir wollen Jahweh dienen«, so trifft er nicht nur eine Entscheidung für sich selbst, sondern gleichzeitig für alle, für die er Verantwortung trägt. Das gleiche Muster finden wir auch im Neuen Bund immer wieder, zum Beispiel beim Kerkermeister von Philippi oder dem Beamten in Kapharnaum.
Die meisten Gesellschaftsformen der letzten Jahrtausende respektierten den Oikos als selbständige Einheit, in der — im Vergleich zu unseren Tagen — außerordentlich viele Kompetenzen gebündelt waren. In vormodernen Gesellschaften, auch in den Gesellschaftsbildern, die wir in der Bibel finden, war der Großteil der Verantwortung nicht beim Staat, sondern in der Familie konzentriert. Die wesentlichen Lebensentscheidungen wurden dort getroffen und auch die gegenseitige Fürsorge war fast ausschließlich Familienangelegenheit. Das Gros der Angelegenheiten, die für den Einzelnen wichtig waren, spielte sich auf der Familienebene ab. Die griechische Antike kannte sogar Zeiten, wo Rechtsfälle des Oikos nicht vor einem Gericht der Polis, also des Staates, verhandelt werden durften.
Heute sind wir von solcher Eigenständigkeit der Familie so weit entfernt wie noch nie in einer Staatsform der Menschheitsgeschichte. In jeder Gesellschaft müssen die drei Zivilebenen Individuum, Oikos und Staat ihre Kompetenzen gegeneinander abgrenzen und zu einem Gleichgewicht finden. In der modernen Gesellschaft stehen sich aber nur noch Staat und Individuum gegenüber, der Oikos ist nach und nach aller Aufgaben und Kompetenzen beraubt und bis zur Bedeutungslosigkeit ausgehöhlt worden.
Schrittweise Änderungen der Rechtsordnung haben die faktische Bedeutung der Familienebene immer mehr geschwächt und ihrer Vitalität beraubt. Besonders seit dem ersten Weltkrieg schreitet der Bedeutungsverlust der Familie immer schneller voran. In der Hauptsache waren es totalitäre Staaten, die den Familienzusammenhalt zielgerichtet geschwächt haben, weil eine atomisierte Masse, die der natürlichen sozialen Strukturen entkleidet ist, leichter zu beherrschen ist. Aber auch Demokratien erliegen im Wettbewerb um die Loyalität des Einzelnen, der zwischen Polis und Oikos — wenn auch zumeist unbewußt — immer ausgetragen wird, leicht der Versuchung, die Familie zu schwächen und ihre Verantwortung zu beschneiden, um die staatliche Einflußsphäre auszudehnen.
Der starke, gesunde Oikos ist das Schreckensbild jedes Diktators. Vereinzelte, entwurzelte Individuen sind hingegen leicht und ohne die Gefahr größeren Widerstandes zu beherrschen. So ergibt sich das Paradoxon, daß die extrem freiheitsfeindlichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts ausgerechnet durch die Freiheitsbestrebungen der Aufklärung begünstigt wurden, welche die Oikos-Ebene geschwächt und den Individualismus gestärkt haben.
Das heutige Menschenbild betont neben der staatlichen Autorität in sehr starkem Maße die Individualität des Menschen. Die Verantwortung, die früher im Familienverband konzentriert war, wird auf die Einzelperson verlagert, der im Gegenzug ein hohes Maß individueller Freiheit zugestanden wird, deren Grenzen nun nicht mehr die patriarchale, sondern die staatliche Ordnung setzt. Wo aber der familiäre Verantwortungsrahmen schrumpft, wird in aller Regel der Staat das entstehende Machtvakuum ausfüllen. Zwar ist das Patriarchat eines der Lieblingsfeindbilder der Moderne, aber keine patriarchalische Struktur hat je solche Verwerfungen anrichten können wie die neuzeitliche Symbiose aus Individualismus und starkem Staat, schon allein deshalb, weil der Einflußbereich eines jeden Patriarchen enge natürliche Grenzen hat.
Und selbst die demokratische Gewaltenteilung, welche die schlimmsten Wucherungen staatlicher Totalität beschränken soll, ist bei weitem nicht so effektiv wie die natürliche Gewaltenteilung durch die Stärkung der mittleren, der familiären Gesellschaftsebene. Strenggenommen leidet diese vielbeschworene demokratische Gewaltenteilung an einem unheilbaren Konstruktionsfehler: Denn die Teilung der Macht zwischen Legislative, Exekutive und Judikative ist nur eine Aufteilung der Macht zwischen verschiedenen staatlichen Organen: Der Staat teilt sich seine Macht also mit sich selbst. Sicher ist dies immer noch besser als eine offene Diktatur, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die eigentlich wirksame Gewaltenteilung, nämlich die zwischen Staat und Familie, zwischen Polis und Oikos, durch die Entmachtung der Familie beseitigt wurde.*
Dies sieht auch der Nürnberger Staatsrechtler Prof. Dr. K. A. Schachtschneider so, der in seinem Aufsatz »Rechtsproblem Familie« die Verstaatlichung der Familienverhältnisse, die rechtliche Aufspaltung der Familienmitglieder zu einzelnen Rechtssubjekten und die Beseitigung der Ordnungsmacht der Familie als Gründe für eine Entwicklung hin zum totalen Staat benennt. Inzwischen kann, so Schachtschneider, der Staat seinem Auftrag zum Schutz der Familie schon deshalb nicht mehr nachkommen, weil er gar nicht mehr weiß, was eine Familie ist.
Aber nicht nur der weltliche Staat, auch viele Christen haben sich inzwischen mit dem individualistisch geprägten Menschenbild der Aufklärung angefreundet und können mit dem patriarchalisch verfaßten Oikos, der das Menschenbild der Bibel bestimmt, nicht mehr viel anfangen.
Die fortschreitende Entmachtung des Oikos betrifft einstweilen alle Lebensbereiche: Wirtschaft, Sicherheit, soziale Verantwortung und besonders auch Bildung. Im ökonomischen Bereich steht heute zumeist das proletarisierte Individuum übermächtigen Konzernen gegenüber, welche zu immer größeren Einheiten fusionieren und die Regeln des Wirtschaftens einseitig festsetzen. Der Familienbetrieb, jahrtausendelang das vorherrschende Element einer kleinteiligen Volkswirtschaft, in der viele Akteure einander auf Augenhöhe begegnen konnten, verliert immer mehr an Bedeutung. Die sozialen Probleme, die sich aus Proletarisierung und familiärer Entwurzelung des Einzelnen ergeben, versucht wiederum der Staat zu lösen. Von der Wiege bis zur Bahre bietet er sich als Ersatzvater an, der alles regelt: Die Betreuung der Jüngsten, die Ausbildung der Heranwachsenden, die Pflege der Kranken, die Ernährung der Armen, die Versorgung der Alten — überall ist der Staat zur Stelle und überdehnt sich damit doch hoffnungslos selbst — bis hin zu seinem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Grenzen zwischen einem sozialen und einem sozialistischen Staat sind dabei fließend.
Besonders Bildung und Erziehung der künftigen Staatsbürger ist diesem »väterlichen Staat« ein Anliegen, das er nur ungern den Familien überläßt. Schon Plato und Aristoteles sahen den Staat als »Vater« und wollten die Erziehung der Kinder den Familien entreißen. Ab dem zwanzigsten Jahrhundert ist ihre giftige Saat schließlich zur Reife gelangt.
Lenin äußerte gegenüber der deutschen Feministin Clara Zetkin: »Wir machen Ernst mit unserer programmatischen Forderung, die wirtschaftlichen und erzieherischen Funktionen des Einzelhaushaltes der Gesellschaft zu übertragen.« 1930 schrieb Vladimir Sensinow in seinem Buch »Die Tragödie der der verwahrlosten Kinder Rußlands«: »Es gilt, die Kinder von dem rohen Einfluß der Familie zu befreien. Wir müssen sie verstaatlichen. Von den ersten Lebenstagen an werden sie unter dem segensreichen Einfluß der Kindergärten und Schulen stehen. Die Mutter zu bewegen, uns, dem Sowjetstaat, das Kind zu überlassen, das soll unsere praktische Aufgabe sein.« Adolf Hitler sagte 1937: »Heute beanspruchen die Volksführung wir, das heißt, wir allein sind befugt, das Volk als solches — den einzelnen Mann, die einzelne Frau — zu führen. Die Lebensbeziehungen der Geschlechter regeln wir. Das Kind bilden wir!« Und der SPD-Generalsekretär Olaf Scholz verkündete 2002 im Deutschlandfunk: »Die Regierung will mit dem Ausbau der Ganztagsbetreuung eine ›kulturelle Revolution‹ erreichen. Wir wollen die Lufthoheit über unseren Kinderbetten erobern!«
So radikal diese Aussagen in dieser Bündelung erscheinen, sind sie doch längst alltägliche Realität geworden, und auch die meisten Christen akzeptieren klaglos, daß zum Beispiel in Deutschland die Entscheidung, ob man seine Kinder selbst unterrichtet, einen Hauslehrer beschäftigt oder sie in eine öffentliche Schule schickt, nicht mehr in der Hand derer liegt, die doch vor Gott Rechenschaft für diese Kinder ablegen müssen. Nicht nur das: Eltern, die hier den steinigen Weg des Heimunterrichts beschreiten, wird oft vorgehalten, daß man doch schließlich »dem Kaiser geben müsse, was des Kaisers sei«. Dabei wird regelmäßig darüber hinweggesehen, daß Jesus hier von Geld geredet hat, nicht aber von unseren Kindern.
Tatsächlich leisten Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, nicht nur einen wichtigen Dienst an diesen selbst, sondern auch an unserer Gesellschaft: An ihrem Platz stellen sie sich der Tendenz entgegen, den Oikos bis zur völligen Bedeutungslosigkeit zu entkernen. Sie entziehen sich dem Anspruch des Staates, sich für alle Lebensbereiche zuständig zu erklären und wirken damit seiner Totalisierung entgegen. Und dafür sollte man ihnen auch dann dankbar sein, wenn man selbst einen anderen Weg geht.
* Durch die mangelhaft konstruierte Rechtsaufsicht über die Jugendämter funktioniert die Gewaltenteilung gegenüber Familien sogar besonders schlecht. So regeln Richter und Jugendämter die Angelegenheiten von Familien häufig »unter Beamten« und damit über die Betroffenen hinweg, die sich als völlig entrechtete wiederfinden. Am Beispiel der Familie Busekros läßt sich das Zusammenwirken von Gericht, Jugendamt, Polizei (die weisungsabhängig agiert) und Gutachter (der wirtschaftlich an der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt interessiert ist) studieren, welche die Familie überrollt haben, ohne daß diese über eine lange Zeit Schutz vor dem Staat noch rechtliches Gehör finden konnte. Dies ist gerade für Heimschulfamilien exemplarisch, denen oft ein jahrelanger zermürbender Kampf mit Jugendämtern und Schulbehörden aufgezwungen wird.
Photo: © Geier