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5 Jahre Haft für Blondinenwitz?
19. Oktober 2010
Ja, ich weiß, ich spitze schon wieder zu. Vermutlich wird auch künftig niemand für das Erzählen von Blondinenwitzen ins Gefängnis kommen. Vorläufig jedenfalls. Wahrscheinlich zumindest. Bestenfalls vielleicht doch möglicherweise auch gar nicht. Obwohl: Vom Wortlaut des Gesetzes her wäre es eigentlich schon möglich …
Aber von vorn: Um das europäische »Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art« [und da denke ich doch tatsächlich, daß ich mich manchmal zu umständlich ausdrücke] umzusetzen, plant die Bundesregierung eine einschneidende Erweiterung des Straftatbestandes der Volksverhetzung gemäß § 130 StGB.
Gemäß Art. 4 dieses Zusatzprotokolls wird die »Aufstachelung« nicht nur gegen Bevölkerungsgruppen sanktioniert, sondern auch gegen Einzelpersonen, die solchen Bevölkerungsgruppen angehören. Folgende Fassung des Gesetzes liegt nun zur Beschlußfassung vor:
(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,
1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder
2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
Nun ist das Problem nicht nur, daß für Taten, die zuvor mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht waren, künftig unter ungünstigen Umständen das fünffache Strafmaß droht. Vielmehr sind die Bestimmungen so schwammig gehalten, daß sie alle Möglichkeiten bieten, Gesinnungen bzw. deren Äußerung zu kriminalisieren. In der Vorlage des Europarates ist sogar davon die Rede, daß der Straftatbestand erfüllt sein könne, wenn ein Angehöriger einer Personengruppe bzw. die Gruppe als solche der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Nach dieser Formulierung wären alle Kabarettisten und Karikaturisten ständig mit einem Bein im Gefängnis. Auch Paulos würde sich in einer solchen Rechtswirklichkeit mit seinem Titosbrief (Tit. 1, 12ff) plötzlich auf ganz dünnem Eis befinden. Juristen sind wegen der Interpretationsanfälligkeit und Dehnbarkeit des Gesetzestextes jedenfalls alarmiert. Theoretisch zumindest liegt der Blondinen- oder Ostfriesenwitz, der ja einen abgrenzbaren »Teil der Bevölkerung« »der Lächerlichkeit preisgibt«, durchaus im Zielbereich des europäischen Zusatzprotokolls, ebenso wie Witze über Unternehmensberater, Beamte, Mathematiker oder sonstige Berufsgruppen. Das Tatmerkmal der Böswillikeit ist allemal Auslegungsfrage. Und ob die öffentliche Ordnung hierdurch gestört wird, hängt weniger von der Meinungsäußerung selbst ab als von der Reaktion derer, die sich durch diese Äußerung betroffen fühlen. Man denke an den Fall des Berliner Eisdielenbesitzers Paolo Savaris, der im vergangenen Jahr Homosexuelle des Grundstückes verwies, die sich dort ausgiebig und öffentlich küßten. Homosexuellenverbände organisierten daraufhin Boykottaufrufe, eine Demonstration und ein homosexuelles »kiss in« an dem Geschäft; den ganzen Aufstand kann man durchaus als Störung der öffentlichen Ordnung sehen. Nach neuer Gesetzeslage könnte man in einem solchen Fall den Platzverweis für einzelne Homosexuelle als Verweis für die Homosexuellen in ihrer Gesamtheit — also wiederum für eine abgrenzbare Bevölkerungsgruppe — interpretieren, beleidigt fühlen diese sich ohnehin und für das Merkmal der Störung der öffentlichen Ordnung können solche gut vernetzten Activisten jederzeit selbst sorgen. Wäre der Eiswirt dann von Gefängnis bedroht?
Auch wenn es höchst fraglich erscheint, ob das Strafrecht ein angemessenes Mittel zur Ausrottung des Blondinenwitzes ist, könnte man dies ja gerade noch hinnehmen, aber wie sieht es sonst mit controversen, zugespitzten Aussagen aus, die nötig sind, um einen gesellschaftlichen Diskurs überhaupt führen zu können? Hätte zum Beispiel Thilo Sarrazin sein umstrittenes Buch überhaupt publizieren können? Und auch wenn sich kein Richter fände, ihn deswegen ins Gefängnis zu schicken — reicht nicht schon die bloße Aussicht, von Interessenvertretern angezeigt und in umständliche juristische Auseinandersetzungen verwickelt zu werden, um »die Schere im Kopf« zu activieren? Reicht nicht allein die Möglichkeit, unbequeme Zeitgenossen mit langwierigen Prozessen zu blockieren, völlig aus, die Meinungsfreiheit drastisch einzuschränken, selbst dann, wenn es am Ende nicht zur Verhängung von Haftstrafen kommt?
Wie ist das künftig, wenn ich z.B. das kirchliche Mietlingswesen als eine Form von Prostitution bezeichne, weil hier ein Liebesdienst (das Predigen des Evangeliums) gegen Bezahlung dargeboten wird? Gilt das als Verächtlichmachung einer Bevölkerungsgruppe (der professionellen Theologen)? Wie aber sollte man den Sachverhalt anders derart verständlich machen, daß auch diejenigen aufwachen, die sonntäglich von solchen Mietlingen geistlich sediert werden? Muß also bei Gefängnisandrohung darauf verzichtet werden, bestimmte geistliche Probleme zu thematisieren? Ich weiß, aus heutiger Sicht erscheint das unwahrscheinlich. Was aber, wenn die falschen Leute sich dieser Gummiparagraphen bemächtigen?
Unproblematisch war die freie Meinungsäußerung in Europa, wie man an den untenstehenden älteren Geiernotizen sieht, schon bisher nicht. Die vorgesehene künftige Rechtslage macht es nicht eben leichter.
Nachtrag 16. 4. 11: Man kann eine Sache noch so überspitzt darstellen, die Realität überholt einen doch: Radiosender nach Ostfriesenwitz wegen Volksverhetzung angezeigt.
Orwell light — was darf man in Europa heute überhaupt noch sagen?
Meinungsfreiheit? Kommt ganz drauf an für wen.
Sind Christen in Europa auch bedroht?
Schwierigkeiten mit der Wahrheit II
Der Weg, die Wahrheit und das Leben