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Volkseigene Ersatzteilspender
19. September 2010
In einem lesenswerten Artikel für die F.A.Z. hat Dr. Stefan Sahm, Chefarzt für Innere Medizin am Ketteler Krankenhaus in Offenbach, auf das Dilemma hingewiesen, in dem sich die Transplantationsmedizin befindet. Denn einerseits verlangt die moderne Transplantationswirtschaft mit ihren langen Wartelisten immer mehr »Frischfleisch«, andererseits sind die ethischen Grundlagen der Organentnahme bei weitem nicht so klar, wie man bei solch einer routinierten Praxis annehmen sollte. Der unsägliche Vorschlag von Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, jedermann zum Ausschlachten freizugeben, der dem zu Lebzeiten nicht ausdrücklich und nachweislich widersprochen hat — die regelmäßige automatische Überführung des menschlichen Kadavers in Volkseigentum also — hat zwar eine öffentliche Diskussion ausgelöst, diese lenkt aber mehr oder weniger von dem eigentlichen Scandalon ab:
Denn so ein richtig totes Organ kann natürlich nicht verpflanzt werden. Lebendspenden sind jedoch selten und aus naheliegenden Gründen auch nur bei wenigen Organen — wie z. B. einer Niere — möglich. Die weitaus meisten Transplantationsorgane werden demzufolge Sterbenden entnommen — Menschen also, die auf der Schwelle zwischen Leben und Tod stehen, die einerseits schon so weit »tot« sind, daß man von der Unumkehrbarkeit ihres Zustandes ausgehen kann, die aber andererseits noch so lebendig sind, daß ihre Organe noch verwertet werden können. Hierzu hat 1968 eine Kommission in Harvard den Begriff des »Hirntodes« construiert, der in Deutschland und vielen anderen Ländern juristisch als Tod anerkannt wird, obwohl es im naturwissenschaftlichen Sinne höchst strittig ist, ob ein hirntoter Mensch wirklich tot ist. Dr. Sahm schreibt:
Die Annahme, Hirntote zeigten keine somatische Integration mehr, hat sich als falsch erwiesen. So halten Hirntote ihre Homöostase aufrecht, den Gleichgewichtszustand des Organismus. Sie regulieren Körpertemperatur und bekämpfen Infektionen, produzieren Exkremente und scheiden sie aus. Die Wunden heilen bei Hirntoten ebenso, wie ihr proportioniertes Wachstum gesteuert wird. Schwangere Hirntote können gesunde Babys austragen. Nicht zuletzt reagieren Hirntote mit Ausschüttung von Stresshormonen auf Schmerzreize. Ein britischer Anästhesist wird mit den Worten zitiert, er befürworte die Transplantation von Organen, gedenke aber nur dann einen Spenderausweis bei sich zu führen, wenn er sicher sein könne, dass er vor der Entnahme betäubt würde.
Prof. Dr. med. Linus Geisler bezeichnet den Hirntod als ein »Kunstprodukt der Intensivmedizin«. Die Argumente, die 1968 zur Hirntoddefinition geführt haben, können inzwischen als widerlegt gelten. Ausgeschlachtet werden »Hirntote« aber weiterhin. Hinzu kommt die Schwierigkeit, selbst den umstrittenen Hirntod im klinischen Alltag mit ausreichender Sicherheit zu diagnostizieren. Dr. Sahm:
Gehirne von für hirntot erklärten Patienten wiesen nicht alle die erwarteten schweren Schäden auf. In Deutschland gelten für die Hirntoddiagnostik die Kriterien der Bundesärztekammer. Eine apparative Untersuchung ist nur bei Kindern bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr vorgesehen. Die in den übrigen Fällen als ausreichend erachtete klinische Diagnostik erfaßt nur Teilbereiche des Gehirns. Funktionen des Mittelhirnes, des Kleinhirns und des Cortex würden gar nicht untersucht, gibt die Physikerin und Philosophin Sabine Müller von der Charité in Berlin zu bedenken.
Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren wie der Positronenemissionstomographie oder der funktionellen Magnetresonanztomographie an Patienten mit schweren Bewußtseinsstörungen lassen an der Behauptung des irreversiblen Ausfalles aller Hirnfunktionen zweifeln. Je empfindlicher die Methode, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß sich Aktivitäten in einzelnen Arealen des Gehirnes finden lassen. Doch gibt es bislang nur wenige aussagekräftige Untersuchungen zum Wert der neuen Methoden für die Feststellung des Hirntodes. Zudem sind sie nur an wenigen Orten, schon gar nicht in kleineren Kliniken und zu jeder Zeit verfügbar.
Da die These, daß der Hirntod die Grenze zwischen Tod und Leben sei, in medizinischer Hinsicht nicht (mehr) haltbar ist und im naturwissenschaftlichen Sinne hier auch etliche Fragen offenbleiben, wird die Frage mehr und mehr der Deutungshoheit von Juristen, Philosophen und Politikern überlassen. Das führt dazu, daß der Tod von Land zu Land unterschiedlich bewertet wird. In Frankreich können Organe unter Umständen schon bei einem Herzstillstand entnommen werden, also wenn ein Patient durchaus noch wiederbelebt werden kann. Es wird von einem Mann in Paris berichtet, dessen Herz kurz vor der geplanten Organentnahme wieder anfing zu schlagen. Es gibt durchaus auch Länder, in denen eine solche Regelung, wie sie unsere Justizministerin anstrebt, schon gültig ist. Wenn z. B. ein deutscher Tourist dort verunglückt, können ihm »legal« Organe entnommen werden, wenn er keinen Widerspruch in der Landessprache bei sich trägt — ohne daß seine Angehörigen dies verhindern könnten.
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