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In unserer Mitte
10. Februar 2011
Über den Collegen mit der elektrischen Feder bin ich an einen Artikel in der »Welt« geraten, wo es darum geht, daß die Seniorenunion sich dagegen verwahrt, Klagen gegen Lärm durch Kindertagesstätten in Wohngebieten gesetzlich auszuschließen. Hintergrund sind offensichtlich vermehrte Klagen Älterer gegen Lärmbelästigung durch Kindergärten, die der Gesetzgeber unterbinden möchte, indem er Kindertagesstätten von den Lärmemissionsgrenzen ausnimmt. Der Präsident des Kinderschutzbundes wittert bei der Verlautbarung der Seniorenunion gleich die »Ausgrenzung von Kindern«, so als hätte da jemand verlangt, daß Kindertagesstätten grundsätzlich in Gewerbegebiete am Stadtrand verlegt werden sollten.
Aus diesem Blickwinkel sieht die Forderung der alten Herrschaften tatsächlich erst einmal ziemlich obszön aus: Die wollen ihre Ruhe haben und die Kinder an die Peripherie entsorgen. Wenn man aber noch einmal darüber nachdenkt, verschiebt sich die Perspektive etwas: Denn das Problem ist ja nicht durch das bloße Vorhandensein von Kindern in ihrem natürlichen Habitat entstanden, sondern durch das Konzentrieren größerer Kinderansammlungen an einem Platze, wodurch der natürliche Kinderlärm, der sonst überall verteilt und damit an jedem einzelnen Ort auch nur zeitlich begrenzt auftreten würde, in der Nähe einer solchen Kinderkonzentrationsstätte erstens potenziert und zweitens quasi ohne Ruhezeiten auftritt. Ein einzelnes Kind wird irgendwann müde, dann kann sich auch das Umfeld entspannen, in einem ganzen Kindergarten wechseln sich die Geräuschemittenten ab. Eine Dauerbeschallung, die keine Regenerationszeiten mehr ermöglicht, wird aber — unabhängig von Art und Quelle — als Psychoterror empfunden und kann einen Menschen an den Rand des Zusammenbruchs bringen. Das eigentliche Problem ist also ein künstliches: Die politisch gewollte Herausnahme der Kinder aus den Familien und Konzentration derselben in der Kindertagesstätte zwecks staatlicher Indoctrination plus Ausbeutung der Arbeitskraft beider Elternteile. Und deshalb drückt die Politik an dieser Stelle auch so: Es geht hier gar nicht um Kinderfreundlichkeit, sondern vielmehr darum, Hindernisse für den beschlossenen und auf Gedeih und Verderb forçierten Ausbau der Kindervergesellschaftung aus dem Weg zu räumen. Das sollte eigentlich auch der Kinderschutzbund erkennen können, der hier so lautstark protestiert hat, und sich besser gegen den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung wenden als gegen die davon veranlaßten Seniorenreaktionen.
Die Sichbarkeit des Waldes scheint aber wieder einmal durch jede Menge Bäume verstellt zu sein. So gibt ein typischer Kommentator des Artikels auf Welt online offensichtlich die Mehrheitsmeinung wieder:
es ist traurig, das man in eutschland extra ein gesetz erlassen muss das diese klagen gegen kitas verhindert. es ist doch eine selbstverständlichkeit und kinder gehören in unsere mitte und nicht abgeschoben
[Originalorthographie naturbelassen]
Der Kommentator übersieht dabei aber, daß das Abschieben der Kinder ja zunächst gerade darin besteht, sie in die Kindertagesstätten zu bringen, da in den Familien kein Raum für sie zu sein scheint. »In unserer Mitte« — das sollte ja zuerst einmal in der Familie heißen, und nicht in einer Kindertagesstätte im Wohngebiet.
Ansonsten kann (und sollte!) man Kindern ab drei Jahren — um solche handelt es sich in Kindertagesstätten ja regelmäßig — durchaus beibringen, daß man jede seiner Handlungen auch auf ihre Auswirkungen anderen gegenüber prüfen muß. Zwischen drei und sechs sollten Kinder durchaus lernen, daß sie es in der Hand haben, ihre Lärmemissionen auf ein sozialverträgliches Maß zu beschränken und daß es ein Zeichen von Rücksichtnahme ist, dies auch zu tun. Indem man gelegentlich spielerisch flüstern und schleichen übt, kann man der Sache sogar einen gewissen Spaßfaktor abgewinnen und Sensibilität wecken für den Geräuschpegel, den man so produziert. Daß die Generation der Eltern, die mehrheitlich darauf geeicht ist, sich selbst keine Grenzen zu setzen und jegliche innere Anwallung hemmungslos auszuleben, den Kindern dies nicht vermitteln kann noch will, ist schon wieder ein anderes Problem. Die Sache entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Denn überschlägig ist es gerade die Achtundsechziger-Alterskohorte, die solche Secundärtugenden wie Selbstbeschränkung und Rücksichtnahme in ihrer Jugendzeit bekämpft hat, und die jetzt nicht damit klarzukommen scheint, daß ihre Enkel sich so ungehemmt verhalten, wie sie es ihren Kindern (falls sie überhaupt noch welche hatten) beigebracht haben. Vielleicht ist dies ja auch Zeichen einer höheren Pädagogik, der die Nachkriegsgeneration jetzt unterworfen wird, um vor ihrem Abscheiden noch einmal zum Nachdenken darüber zu kommen, was sie da eigentlich angerichtet hat.