Sie befinden sich hierDie neun Gebote
Die neun Gebote
16. September 2013
Da bekomme ich doch am Wochenende — es ist Wahlkampf — in der Innenstadt das »Deutschlandmagazin« der »Deutschen Konservativen e.V.« in die Hand gedrückt, das hinten auf der letzten Umschlagseite die Zehn Gebote zeigt. Die Gebote finden sich gleich doppelt: Einmal als bloßer Text, zum zweiten ist die Abbildung eines Gemäldes mit der Unterschrift »Moses und die Gesetzes-Tafel« zu sehen, das einen Bärtigen in barocker Kostümierung zeigt, der eine Tafel mit dem Text der Gebote hält.
Freilich hat der Redakteur sich nicht die Mühe gemacht, beide Texte zu vergleichen. Auf der Tafel im Gemälde ist nämlich der vollständige Text zu finden, wie er auch in der Bibel steht, daneben aber die um ein Gebot gekürzte Fälschung aus dem katholischen Katechismus (wie sie übrigens auch genauso von Luther für seinen Katechismus übernommen wurde). Nun ja, Ihr kennt ja sicher alle den alten Kinderreim:
Zehn Gebote Gottes sollten unser Herz erfreu’n,
Rom hat das zweite einkassiert, da waren’s nur noch neun …
Es ist das ja ein alter Hut: Wer sich selbst nicht dem Wort Gottes anpassen will, versucht immer wieder, das Wort Gottes seinen Vorstellungen anzupassen. Meist geschieht dies mit dem Mittel willkürlicher Auslegung, wo dies nicht reicht, mit dem Mittel verfälschender Übersetzung. Die glatte Streichung eines Gebotes aber ist besonders dreiste Fälschung und erklärt (unter anderem), warum die Katholische Kirche jahrhundertelang jeden verfolgt und verbrannt hat, der sich selbst in den Besitz einer Bibel gebracht und darin gelesen hat. Denn weil der Götzendienst, der da im zweiten Gebot (2. M. 20, 4 — 6) verboten wird, in der katholischen Kirche beim besten Willen nicht zu übersehen ist, hat man dieses einfach unter den Tisch fallen lassen. Nun hatte man aber nur noch neun Gebote übrig. Was tun? Man sägte das zehnte einfach in zwei. Aus dem dritten wurde so das zweite, aus dem vierten das dritte — und so weiter. Man fühlt sich gleich an Emil Steinbergers legendären Garderobensketch erinnert: »Ich werde jetzt alle Mäntel einen Chakchen nach vorn chängen …«.
Was bei Steinberger noch unglaublich lustig war, ist bei den Geboten ein tödliches Vergehen. Der Schaden ist dabei nicht nur der Verlust des zweiten Gebotes, auch dem zehnten ist die Zwieteilung nicht gut bekommen. Im Bibeltext (2. M. 20, 17) lesen wir in einem Zug:
»Nicht begehrst du das Haus deines Beigesellten: Nicht begehrst du die Männin deines Beigesellten, noch seinen Diener, noch seine Bemutterin [Amme], noch seinen Stier, noch seinen Esel, noch alles, was deinem Beigesellten zueigen ist.« Wir sehen hier den umfassenden Schutz des Hauses eines Mannes bezeugt, des Oikos, zu dem neben Weib und Kindern auch der gesamte Besitz gehört und der für jeden anderen tabu ist, weil er eine eigenständige Verantwortungs- und Rechtsgemeinschaft darstellt, die eine höhere Verbindlichkeit und eine weitaus tiefere Bedeutung, Verankerung und Absicherung im Wort Gottes genießt als zum Beispiel die staatliche Rechtsgemeinschaft.
Dies wird verschleiert, wenn man das Gebot zerstückt. Lautet nun das neunte: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.« und davon losgelöst das zehnte: »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh, noch alles, was dein Nächster hat.«, so geht der Zusammenhang verloren und das Haus wird nur noch als physisches Gebäude verstanden, nicht mehr als der biblische Oikos, der jeden und alles, was danach aufgezählt wird, als Oberbegriff umschließt und vereint. Die Beschränkung des Begriffes »Haus« auf die sichtbare Gebäudehülle wird aber dem biblischen Gebrauch des Wortes nicht annähernd gerecht.
Da nun leider die kirchliche katechetische Tradition viel tiefer im Volksbewußtsein verankert ist als tatsächliche Kenntnis des unverfälschten Wortes Gottes, ist diese dreiste Bibelfälschung als eine der Ursachen schuldigzusprechen, die dazu geführt haben, daß die biblische Bedeutung des autonomen Oikos heute allgemein kaum noch verstanden wird. Wer weiß denn heute noch, daß der Schutz der Unverletzlichkeit der Grenzen des unabhängigen Oikos, den das zehnte Gebot in der unzerstückten Fassung der Bibel festschreibt, eine ebensolche göttliche Rechtssetzung ist wie der Schutz vor Diebstahl, Ehebruch oder Mord? So hat die Verschleierungstaktik zur katholischen Rechtfertigung des Götzendienstes in mittelbarer Folge dazu beigetragen, daß die biblisch gebotene gesellschaftliche Gewaltenteilung zwischen Oikos und Polis, zwischen Familie und Staat, beseitigt werden konnte und nach der Entmachtung der Familie nun das entwurzelte Individuum ungeschützt dem absoluten, dem totalen Staat gegenübersteht.