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Umbringen, um zu beleben
19. Mai 2012
Im März hatte ich bereits den Unterschied zwischen γραφη (Geschriebene[s]) und γράμμα (Schrift) erwähnt und in diesem Zusammenhang auch 2. Kor. 3, 6 angeführt:
»Er macht uns auch tauglich zu Dienern des neuen Bundes, nicht der Schrift, sondern des Geistes; denn die Schrift bringt um, aber der Geist macht leben.«
Dieser Satz lädt freilich zu verschiedenen Mißverständnissen ein, die tatsächlich auch typischer und fester Bestandteil christlicher Theologie und Verkündigung geworden sind.
Das erstes Mißverständnis besagt: Die Schrift sei schlecht*. Dies ist nicht so. Die Schrift (γράμμα) ist die notwendige äußere Form des Geschriebenen (γραφη); sie ist nötig, um Gottes Wort über die Jahrhunderte hin zu bewahren und hat damit einen festen Platz im Wirken Jahwehs mit den Menschen. Aber kann etwas gut sein, das uns tötet?
Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns einem zweites Mißverständnis zu: Dieses besteht darin, daß es sich bei dem Unterschied von Schrift und Geist um einen Antagonismus, also einen unversöhnlichen Gegensatz handeln würde. Tatsächlich erweckt der Text auf den ersten Blick diesen Eindruck: Die Schrift tötet, der Geist belebt, unser Denken aber ist von Kindesbeinen daran gewöhnt, daß Leben und Tod im Gegensatz stehen wie heiß und kalt, naß und trocken. Aber schon diese Beispiele zeigen: Was für das Kind völlig unumstößlich feststeht, muß der Erwachsene genauer ansehen: Heiß und kalt sind dann auf einmal nur noch Einträge an unterschiedlichen Punkten einer linearen Temperaturscala, unterschieden zwar in ihrer Quantität, aber durchaus keine qualitativen Gegensätze. Wenn ich Eis schmelze und das Wasser zum Kochen bringe, dann erreiche ich irgendwann während dieses Prozesses eine Wassertemperatur von 10 °C, die man gemeinhin noch als »kalt« bezeichnen würde, später habe ich eine Temperatur von 70 °C, bei der ich mir schon die Finger verbrühen kann, die also als »heiß« wahrgenommen wird. Anfangs ist das Wasser kälter, später immer heißer, dies ist aber ein Prozeß und kein absoluter Gegensatz. 10 °C und 70 °C sind Zwischenergebnisse auf der Linie, an deren Anfang ein Eisblock und an deren Ende Wasserdampf steht.
Auch wenn ich mein Wasserglas über der Zeitung umschütte und das zuvor als trocken geltende Papier dadurch naß wird, so hat sich in Wahrheit der Feuchtigkeitsgehalt des Papiers nur drastisch erhöht. Das zuvor als »trocken« wahrgenommene Papier hatte ja auch schon eine natürliche Feuchte, ansonsten wäre es hart und brüchig. Auch der Unterschied zwischen dem »trockenen« und dem »nassen« Papier ist also zunächst ein nur quantitativer und kein grundsätzlicher: Aus der zunächst geringen Feuchte ist eine große geworden.
Aber ist dies auch anwendbar für einen solch fundamentalen Unterschied wie den zwischen Leben und Tod? Daß dies so ist, will ich im Folgenden herleiten. Paulos betont in 2. Kor. 3, 6 einen wichtigen Unterschied, aber keinen absoluten Gegensatz. Wenn wir seine Feststellung mit anderen Aussagen der Schrift zusammenrechnen, dann können wir folgende These formulieren:
Die Schrift bringt um, was gemäß Adam ist, damit hernach der Geist beleben kann, was gemäß Christos ist.
Wenn das richtig ist, dann ist in 2. Kor. 3, 6 also kein Widerspruch zwischen Schrift und Geist beschrieben, sondern eine Reihenfolge. So wie in unserem Vergleich mit dem Verdampfen von Eis das Wasser erst als kalt, später als heiß wahrgenommen wird, so würde der Mensch, der seine Rebellion gegen Jahweh aufgibt, zunächst am Buchstaben des Gesetzes scheitern, um später vom Geist Gottes belebt zu werden. Dies würde dann also keine unterschiedlichen Lebensentwürfe beschreiben — buchstabengemäßes oder geistgemäßes Leben — sondern unterschiedliche Stufen eines fortschreitenden Reifeprozesses; um in der Sprache unseres Gleichnisses zu bleiben: Einträge an verschiedenen Punkten der selben linearen Scala.
Damit diese These als richtig gelten kann, sollte sie weder der grammatischen Struktur des Grundtextes noch dem Gesamtbefund der biblischen Aussagen widersprechen. Der Satz »Die Schrift bringt um, aber der Geist macht leben«, wird ganz wesentlich von dem zentralen »aber« beherrscht, das uns einen harten Gegensatz anzeigen will. Im Grundtext steht hier das hellenische δέ, das fast alle Bibelübersetzungen hier mit »aber« wiedergeben. Tatsächlich hat dieses Wort ein sehr weites Bedeutungsspektrum, es kann zwar entgegenstellend verstanden werden, aber auch verbindend, als ein »und«, »denn«, »nämlich«, »ja doch«, »also«, »andererseits auch«. Tatsächlich habe ich zumindest eine Übersetzung gefunden, die δέ als »und« wiedergibt, die »Young’s Literal Translation« von 1862: »… for the letter doth kill, and the spirit doth make alive.« Der Grundtext widerspricht also der oben vorgestellten These nicht; δέ muß keinen Gegensatz anzeigen, sondern kann ein Hinweis auf eine kausale Verbindung sein.
Paßt dies aber auch mit anderen Lehraussagen der Schrift zusammen?
Tatsächlich ist das Prinzip, daß geistliches Leben den Tod des fleischgemäßen Lebens zur unumgänglichen, notwendigen Voraussetzung hat, eine der Kernaussagen neutestamentlicher Lehre. Stellvertretend können hier nur wenige Belege angeführt werden, der bibelkundige Leser wird aber mühelos eine große Zahl weiterer finden.
Jesus erklärt in Joh. 12, 24:
»Amen, Amen, ich sage euch: So nicht das Korn des Getreides, in das Erdland gefallen, wegertotet [stirbt], bleibt es, ja es, allein; so es aber wegertotet, trägt es viel Frucht.«
Die Apostel beziehen sich auf dieses Prinzip z. B. in Röm. 8, 13; 1. Petr. 3, 18; Kol. 2, 13 oder 2, Kor. 4, 10f.
Wir können also mit gutem Gewissen festhalten, daß in 2. Kor. 3, 6 zwar der Unterschied zwischen dem umbringenden Buchstaben und dem lebenmachenden Geist beschrieben ist, aber kein unüberbrückbarer Gegensatz. Dies ergibt sich übrigens auch schon daraus, daß Paulos in den folgenden Versen feststellt, daß schon der Dienst des Todes, der auf den Buchstaben beschränkt war, Herrlichkeit besaß, daß der Dienst des Lebens aber eine größere Herrlichkeit hat. Wir sehen: Der Unterschied ist ein quantitativer. Es geht um geringere und größere Herrlichkeit. Es ist wie mit dem scheinbaren Gegensatz von »kalt« und »heiß«: Bei näherer Betrachtung sind der tötende Dienst gemäß Schrift und der lebendigmachende Dienst gemäß Geist unterschiedliche Markierungen auf der selben Mensur. Auch die Zeitebene ist für das Verständnis wichtig. Für alles gibt es gemäß Prd. 3, 1 — 3 eine richtige Frist: Zeit zum Umbringen und Zeit zum Heilen (des zuvor Umgebrachten).
So gibt es nun zwei Möglichkeiten, das Leben im Geist zu verfehlen: Die erste ist die, auf die Paulos hier den Schwerpunkt gelegt hat. Sie besteht darin, bei der äußeren Form des Buchstabens stehenzubleiben und sich mit dem Buchstaben des Gesetzes zu begnügen. Da der Mensch das Gesetz in seiner Vollständigkeit nicht halten kann, wird es ihn am Ende zum Tode verurteilen. Dies ist der Tod durch Gesetzlichkeit.
Paradoxerweise besteht die andere Möglichkeit, das Leben im Geist zu verfehlen, darin, dem tötenden Buchstaben des Gesetzes von vornherein auszuweichen. Denn wer von der Schrift nicht zu Tode gebracht ist, kann auch im Geist nicht auferweckt werden. Dies ist der Tod durch Gesetzlosigkeit. Er wird gefördert durch den Gedanken, wir könnten oder müßten zwischen der tötenden Schrift und dem lebenmachenden Geist wählen. Die Frage ist aber nicht, ob ich schriftgemäß sterben oder geistgemäß leben will, sondern ich muß zunächst akzeptieren, daß die Schrift mich zum Tode verurteilen muß, damit ich das Leben im Geist erlangen kann. Dies ist kein entweder-oder, sondern eine kausale Abfolge. Wer sich vom Gesetz nicht zu Tode bringen lassen will, kann auch nicht im Geist lebengemacht werden.
Typisches Kennzeichen solcher »Todesverweigerer« ist ihre Oberflächlichkeit und Selbstzufriedenheit. Sie leiden nicht unter ihrem Scheitern an der Zielgebung Jahwehs, sondern haben alle Regeln hinter sich geworfen (Ps. 50, 17):
Und du, du haßtest Erzüchtigen und warfst meine Worte hinter dich.
Sie reden zwar vom lebenmachenden Geist, verwechseln diesen aber mit ihrem Gefühl, weil sie kein Unterscheidungsvermögen haben. Denn ihr Denken ist nicht am Wort Gottes geschult: Dieses verwerfen sie ja, weil sein Buchstabe tötet (und sie bringen das Kunststück fertig, gleichzeitig die Bibel trotzdem — irgendwie — anzuerkennen). Solche nennt Paulos »Feinde des Pfahles[G]« (Phil. 3, 18). Wohl erkennen sie durchaus den stellvertretenden Tod des Christos für sich an und halten sich dadurch für »gerettet«, daß sie an bestimmte Lehrsätze glauben, sie erkennen aber nicht, daß dieser lebenmachende Tod des Christos für sie nur wirksam wird, wenn auch sie selbst mit diesem angepfahlt werden (Gal. 2, 19).
* Theo Lehmann hat übrigens in der Zeitschrift »factum« letztens auf ein weiteres Mißverständnis hingewiesen, welches in der Ansicht besteht, daß die Schrift tot sei. Da hier eindeutig im Text steht, daß die Schrift tötet, nicht aber, daß sie selbst tot ist, würde dieses Mißverständnis nicht nur auf lausiger Theologie, sondern sogar auf Entstellung des Textes beruhen.
Photo: © Geier