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Doch noch mal: Gaza
11. Juni 2010
Keine Angst: Dieses Blog wird nicht zum Politblog umfunktioniert. Aber die beispiellose Mediencampagne gegen Israel nach den Geschehnissen auf der »Mavi Marmara« hat mich veranlaßt, das Thema, das ich ja schon am 1. Juni und am 3. Juni kommentiert hatte, doch noch einmal aufzugreifen. Und Realitätsflucht ist ja ohnehin in erster Linie ein geistliches Thema.
Auf Krauthammers Artikel »Diese lästigen Juden« hatte ich ja schon verwiesen. Dieser erklärt, daß (und wie) jeder, aber auch wirklich jeder Versuch der Israelis, ihr bloßes Überleben zu schützen, systematisch delegitimiert wird.
Ein weiterer lesenswerter Artikel zum Thema findet sich auf der »Achse des Guten«. Leon de Winter schreibt dort über eine gewisse Inkonsequenz islamistischen Denkens:
Von dreien der neun getöteten Aktivisten auf der »Mavi« ist bekannt, dass sie sich wünschten, als Märtyrer zu sterben. Man sieht diese pathologische Prahlerei vom ersehnten Tod bei Islamisten häufiger. Sie posaunen herum, wie sehr sie nach der Märtyrerschaft dürsten. Werden sie dann von israelischen Kugeln getroffen, tragen Tausende blindwütiger, lautstark Rache fordernder Islamisten sie zu Grabe. Ein fröhliches Dankeschön an die Israelis, dass sie den Märtyrern beschert haben, was sie sich aus tiefstem Herzen wünschten — die Fahrkarte zu den 72 Jungfrauen im Paradies — bekommt man von den Mengen selten zu hören.
Aber auch die westliche Inkonsequenz wird konsequent adressiert:
Warum ist im Fall der Palästinenser immer alles schlimmer als zum Beispiel im Fall der Tschetschenen? Letztere sind massenhaft von den Russen abgeschlachtet worden, in einem weit größeren Umfang, als Palästinenser je zu Opfern von Israelis geworden sind.
Und es sind ja nicht nur die Tschetschenen. Vorgestern haben Attentäter in Afghanistan eine Hochzeitsfeier gesprengt, mindestens 40 Menschen starben. Vor ca. zwei Wochen haben Taliban in Lahore zwei Moscheen gestürmt und über 70 Menschen umgebracht. Man könnte die Reihe dieser Beispiele beliebig verlängern. Das öffentliche Interesse hält sich aber in Grenzen. Das wird erst dann wach, wenn Israel beteiligt ist. Dann aber richtig, und dann werden auch die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verwischt. Inzwischen ist ja bekannt geworden, daß einige der israelischen Soldaten auf der »Mavi Marmara« unter Deck verschleppt und brutal mißhandelt wurden und daß die meisten der neun Todesfälle bei deren Befreiung vorkamen. Israelische Soldaten werden nahezu alles tun, um keinen der ihren in Feindeshand zu lassen, nicht zuletzt wegen des enormen Erpressungspotentials, das aus entführten Soldaten wie Gilad Shalit gezogen wird.
Über die noblen Ideale der Europäer schreibt de Winter:
Aber warum gelten die nie für die Kurden? Oder für die Menschen in Darfur? Oder für die Kongolesen? Immer geht es um die Palästinenser, und dabei sind sie unter allen unterdrückten Völkern diejenigen, die es am wenigsten schlecht haben.
Inzwischen wurde das Nachzüglerschiff »Rachel Corrie« von den Israelis aufgebracht. Das Schiff ist nach der amerikanischen »Märtyrerin« und »Friedensaktivistin« Rachel Corrie benannt, was de Winter zu einer weiteren interessanten Betrachtung über die Unterschiedlichkeit öffentlicher Wahrnehmung veranlaßt:
Die tragische Hysterikerin Rachel Corrie kam ums Leben, als sie vor einen fahrenden Bulldozer der israelischen Armee sprang. Das hätte sie in Tschetschenien nicht getan. Rachel ist jetzt zu einer Art Schutzheiligen der nützlichen Idioten geworden.
Der britische Journalist Tom Gross hat einmal sämtliche jüdischen und israelischen Rachels aufgelistet, die bei palästinensischen Gewaltakten ums Leben kamen. Darunter zum Beispiel Rachel Thaler, eine sechzehnjährige Britin, die 2002 bei einem Sprengstoffanschlag auf eine Pizzeria getötet wurde — die britische Presse hat Rachel Corrie Hunderte von Artikeln gewidmet, Rachel Thaler aber totgeschwiegen. Da wäre Rachel Levy, 17, getötet bei einem Sprengstoffanschlag auf ein Lebensmittelgeschäft. Rachel Gavish, zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn bei einem Sprengstoffanschlag während eines Pessach-Essens getötet. Rachel Charhi, bei einem Sprengstoffanschlag getötet, als sie in einem Straßencafé saß. Rachel Levi wurde erschossen, als sie auf den Bus wartete. Rachel Shabo wurde zusammen mit ihren drei Söhnen im Alter von 5, 13 und 16 umgebracht. Rachel Ben Abu, getötet bei einem Sprengstoffanschlag auf ein Einkaufszentrum. Und so weiter und so fort. Rachel Corrie warf sich vor einen Bulldozer, dessen Fahrer sie nicht rechtzeitig sehen konnte. Sie wurde zur Heiligen. Die anderen Rachels wurden kaltblütig ermordet und sind außer für ihre Familien und ihre Freunde für jedermann anonym geblieben.
Es geht hier nicht um ein Aufrechnen. Es geht um die Feststellung, daß die Maßstäbe der öffentlichen Bewertung von Geschehnissen jede Verhältnismäßigkeit verloren haben. Zum Thema Verhältnismäßigkeit findet sich bei de Winter noch ein interessanter Vergleich:
Werfen wir einen Blick auf einen wichtigen Indikator für den Status quo in einem Gemeinwesen, die Rate der Säuglingssterblichkeit pro tausend Geburten. Das sagt sehr viel über Ernährung, Hygiene und Zugang zu medizinischer Versorgung aus. In der Schweiz liegt die Säuglingssterblichkeit bei 4,12 Promille — 4,12 von 1000 Neugeborenen sterben vor dem ersten Lebensjahr. Eine niedrige Rate, fast wie die von Israel: 4,17. Im Sudan liegt sie dagegen bei 78,1 Promille — erschreckend hoch; eines von dreizehn Neugeborenen stirbt. Im Gazastreifen, dem Land von Hunger und Elend und Verzweiflung, dem Land, das die nützlichen Idioten gegen die Juden beschützen müssen, wie sie die Menschen von Darfur nie gegen Khartoum beschützt haben, beläuft sich die Säuglingssterblichkeit auf 17,71 Promille. Das ist im Vergleich zum Sudan sehr wenig und im Vergleich zu Israel sehr viel. Und im Vergleich zur Türkei? Dem Land, das dank seiner radikalislamischen Regierung auf eine militärische Konfrontation mit Israel zusteuert? Dort liegt die Säuglingssterblichkeit bei 24,84 Promille. Dort sterben mehr Neugeborene als im Gazastreifen. Es wäre vielleicht sinnvoll, einen Schiffskonvoi mit Ärzten und Hebammen aus Gaza in die Türkei zu schicken. Die medizinische Versorgung in Gaza ist ja offensichtlich besser organisiert als die in der Türkei.
Vor einigen Tagen schrieb der Korrespondent der Washington Post: »Aber wenn man durch die Hauptstraße von Gaza-Stadt geht — die Salah al-Din Street — sieht man Lebensmittelgeschäfte, die von Wand zu Wand mit frischen israelischen Joghurts, Hummus, ja sogar aus Ägypten herübergeschmuggelten Cocoa Puffs gefüllt sind. Die Apotheken sehen genauso gut bestückt aus wie eine typische Rite Aid in den USA. ›Wenn Leute aus dem Westen kommen, haben sie ein bestimmtes Bild von Gaza im Kopf‹, sagt der Ökonom Omar Shaban, Direktor von Pal-Think for Strategic Studies in Gaza. ›Wir haben Mikrowellen in unseren Häusern, und zwar alle, nicht nur ich. Wenn man in ein Flüchtlingslager kommt, ist die Behausung dort zwar schlecht, aber die Menschen und die Ausstattung sind modern. Das Problem ist die öffentliche Infrastruktur.‹«
Das ist unangenehm, doch in den Slums von Kairo oder Damaskus oder jeder anderen arabischen Stadt ist die Infrastruktur nicht besser.
Wenn man von allen Problemen auf der Welt die »katastrophalen Zustände« im Gazastreifen zum Brennpunkt der heiligen Empörung macht, setzt man sich dem Verdacht aus, dass man entweder geistig minderbemittelt ist oder Islamist oder Antisemit.
… mal abgesehen davon, daß die Hamas die Hilfsgüter, die die Flotilla transportiert hat und die man angeblich so nötig hat, immer noch nicht in den Gazastreifen gelassen hat.
Die noblen Motive der Blockadebrecher sind inzwischen auch ausreichend dokumentiert:
Als am frühen Morgen des 31. Mai die Schiffe der Free-Gaza-Flottille im Mittelmeer von der israelischen Marine vor der Weiterfahrt in ein unter Seeblockade stehendes Gebiet gewarnt wurden, entgegnete jemand auf einem der Schiffe: »Halt den Mund. Geh zurück nach Auschwitz.«
Damit stehen sie in einer Reihe mit der amerikanischen Journalistin Helen Thomas, die den Juden nahelegte, doch endlich »nach Hause« zurückzugehen: Nach Deutschland und Polen.
Sie selbst hat bisher freilich noch wenig Anstalten gemacht, in den Libanon zurückzukehren, aus dem ihre Eltern nach Amerika ausgewandert waren. Und das, obwohl Juden schon einige Jahrtausende länger in Israel siedeln als Libanesen in Amerika.
Daß die Seeblockade des Gazastreifens — die übrigens, was fast durchgängig totgeschwiegen wird, keine israelische, sondern eine israelisch-ägyptische Blockade ist — für Israel eine Frage des Überlebens ist, zeigt zum Beispiel der folgende Film vom vorigen Jahr, in dem ein aufgebrachtes Schiff mit hinter civilen Gütern versteckten Kriegswaffen zu sehen ist, die der Iran für die Hezbollah bestimmt hatte:
Die geographischen Besonderheiten bringen es aber mit sich, daß das winzige Israel extrem genau hinsehen muß, was für Waffen mit welchen Reichweiten in die Hand von Hamas, Hezbollah und anderen Adressaten von »Hilfslieferungen« geraten. Der folgende Film erklärt dies; zwar wurde er mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung produziert, eine deutsche Fassung habe ich gleichwohl nicht gefunden:
Nachtrag: Hier ist noch ein Artikel von de Winter. Auch wenn er sich mit dem oben citierten thematisch stellenweise überschneidet, ist er doch unbedingt lesenswert, da er die geostrategischen Motive der Türkei in diesem ganzen Spiel sehr deutlich beleuchtet und überhaupt noch eine Menge weiteres Faktenmaterial enthält.
Nachtrag 28. Januar 2011: Inzwischen sind die Untersuchungen des Vorfalles abgeschlossen, siehe dazu hier und hier.