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Unterm Messer: Paulos tranchiert


By Geier - Posted on 03 Juli 2012

3. Juli 2012

 

Zu den am häufigsten mißbrauchten, gefledderten, zweckentfremdeten und mißhandelten Bibelversen gehört zweifellos Philipper 4, 7. Wir lesen hier in den Versen 6 und 7:

»Nicht eines sorget, sondern in allem, in dem Gebet und dem Flehen, mit Dank sollen eure Bitten bekannt gemacht sein zu dem Gott, dann wird der Friede des Gottes, der überhabene allem Denken, eure Herzen und eure Gedanken bewachen in dem Christos Jesus.«

Paulos trifft damit eine ganz klare Lehraussage: Wenn wir nicht sorgen, ist unser Denken mit dem Denken des Christos in Übereinstimmung und dadurch in ihm bewahrt und geschützt. Sorgen wir uns hingegen, verlassen wir diesen Schutzbereich und werden in unserem Denken keinen Frieden finden. Paulos baut damit direkt auf die Lehre auf, die Jesus gegeben hat:

Er sagte aber zu seinen Lernenden: Deshalb sage ich euch: Sorget nicht aufgrund der Seele, was ihr essen solltet, aber auch nicht aufgrund des Leibes, in was ihr schlüpfen solltet. (Lk. 12, 22)

Aber wer aus euch vermag, indem er sorgt, seinem Wachstum eine Elle hinzuzusetzen? Wenn daher aber auch nicht irgend Geringstes ihr vermöget, was sorget ihr die Übrigen betreffend? (Lk. 12, 25f)

Und wann gleichsam sie euch danebengebend abführen, nicht sorget vorher, was ihr sprechen werdet, sondern was euch gegeben wird in jener Stunde, dies sprechet; denn nicht seid ihr, ja ihr, die Sprechenden, sondern der heilige Geist. (Mk. 3, 11)

Es geht hier darum, daß Sorge strenggenommen eine Form von Rebellion ist: Das Mißtrauen, daß Gott die Sache nicht im Griff habe und man selbst nachhelfen müsse. Wer in diesem Wahn lebt, kann keinen Frieden finden, weil er immer wieder mit den Grenzen des eigenen Vermögens konfrontiert wird: Er traut es Gott nicht zu, will es selbst lösen und kann es doch nicht. So ist er in dem Kreis aus Sorge und Unfrieden gefangen, aus dem er — so Paulos — nur ausbrechen kann, indem er sich der Sorge verweigert.

Nun erstreckt sich der Satz aus dem Philipperbrief ja über zwei Verse. Die biblische Verszählung aber dient nur dem schnellen Auffinden von Textteilen; sie ist eine relativ junge Erfindung und sollte keinesfalls dazu verführen, in der willkürlichen Struktur der Verse inhaltliche Abgrenzungen zu sehen. Ein Satz bleibt ein Satz, auch dann, wenn er sich — was bei Paulos, der bei Gelegenheit noch längere Schachtelsätze baut als ich, schon mal vorkommen kann — über sehr viele Verse erstreckt. Was aber tun die Kirchen? Sie nehmen das Tranchiermesser und amputieren dem Satze Vers 6. Dabei haben sie keine Skrupel, mitten durch die Sehnen und Adern der Syntax zu schneiden, die diesen Satz am Leben erhalten. Was bleibt übrig? Ein Vers 7, der eine schöne Wirkung beschreibt, ohne deren Voraussetzung zu nennen. Von der klaren Kausalverbindung — wenn Du Sorge säst, wirst Du Unfrieden ernten — bleibt ein hohler Gruß, eine inhaltsleere Nettigkeit zur Verabschiedung der Versammlung: »Und der Friede Gottes bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus« — Amen und auf Wiedersehen, fahrt vorsichtig, wir sehen uns dann nächste Woche wieder!

»Und der Friede Gottes bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus« — Das klingt ja schließlich auch so nett! Das hat so einen hohen Wohlfühlfaktor, allerdings ist der Lehr- und Nährwert dabei ganz und gar verlorengegangen. Das zerstückte Wort ist seiner Kraft beraubt. Paulos erklärt den kausalen Zusammenhang  zwischen Sorge und Unfrieden in unserem Herzen, der gefledderte Satz ist aber nur noch ein billiger Segenswunsch ohne jede Wirksamkeit. Woche für Woche ergießt sich diese amputierte Aussage über Millionen Christen, und die wenigsten haben je darüber nachgedacht, daß ihnen mit dem vollständigen Satz ein hochwirksames Werkzeug in die Hand gegeben wäre, in ihrem Denken den Frieden zu finden, den sie so sehr vermissen. So bewirkt der verunglückte Segensspruch das Gegenteil dessen, was er beschwört: Er verhindert durch die stupide Gewöhnung das Nachdenken über die klare Lehraussage, die hinter den paulosschen Versen steht; es kann aber der Frieden, den er zusprechen will, nicht gefunden werden, da seine Voraussetzung verschwiegen wird.

 

 

 


Abb.: gemeinfrei; aus einem medizinischen Lehrbuch, 18. Jh.

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