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Orlando Figes · Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne
29. November 2012
Orlando Figes
Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne
Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors
Hanser Berlin
384 Seiten, gebunden, 24,90 €
ISBN 978-3-446-24031-5
Man kann Geschichte vermitteln, indem man die großen historischen Eckdaten referiert. Man kann aber auch über die unmittelbare Lebenswirklichkeit der Menschen einer Epoche erzählen, und dadurch ein viel lebendigeres Bild zeichnen. Daß der Historiker und Rußland-Spezialist Orlando Figes Meister der Kunst ist, Geschichte so darzustellen, daß sie unmittelbar erlebbar wird, hat er schon mit Büchern wie »Die Flüsterer« oder »Die Tragödie eines Volkes« gezeigt. Sein neues Buch, »Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne«, ist thematisch schmaler aufgestellt als diese großen Bücher. Es erzählt die Geschichte des Moskauer Paares Lew und Sweta, das zunächst durch den Krieg getrennt wird. Als Lew aber aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, wird er in das Straflager Petschora im russischen Norden verbracht — ein Schicksal, das er mit unzähligen weiteren russischen Kriegsheimkehrern teilt, denn in der stalinistischen Sowjetunion galt allein die Tatsache der Kriegsgefangenschaft schon als Indiz für eine Kollaboration mit dem Feind.
Zweieinhalb Millionen Gefangene waren Anfang der fünfziger Jahre im sowjetischen Gulag-System konzentriert, und zweifellos lastete ein hoher politischer Druck auf der Justiz, diesen Strom billiger Arbeitssklaven nicht abreißen zu lassen. So wurde Lew schließlich aufgrund eines gefälschten Geständnisses zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Das besondere an seinem Fall: Es gelingt Lew im Lager, ein heimliches System des Briefverkehrs einzurichten, das die Zensur umgeht. So sind hunderte unzensierte Briefe aus dem Gulag und zurück erhalten geblieben — ein authentisches Zeitzeugnis von unschätzbarem Wert. Noch bis zum Jahr 2008 konnte Orlando Figes mit dem Paar einige Interviews führen, und so erzählt der Historiker ihre Geschichte, ja er läßt sie diese Geschichte selbst erzählen, denn ein großer Teil des Buches besteht aus dem Text der Briefe.
Die Nachrichten, die zwischen Moskau und Petschora wechseln, zeichnen dem Leser ein Bild der Zustände in der Sowjetunion der späten Stalinjahre: ein Bild von einer Gesellschaft, in der Reisewillige in Moskau mehrere Tage nach einer Zugfahrkarte anstehen mußten, so daß die Bahnbediensteten abends deren Namen notierten, damit die Wartenden zuhause schlafen und man am nächsten Morgen die Warteschlange wieder rekonstruieren könne, ein Bild vom Gulag, der sich mehr und mehr von einem politischen Terrorinstrument zu einem fast unpolitischen Werkzeug der wirtschaftlichen Ausbeutung von Millionen billiger Arbeitssklaven entwickelt hatte. Nach dem Tode Stalins wurde eine relative »Humanisierung« im Arbeitslager möglich, was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß die harte Zwangsarbeit in der lebensfeindlichen Umgebung des russischen Nordens immer noch ein brutales Strafsystem darstellte, das auch dann noch infolge der katastrophalen Arbeitsbedingungen viele Todesopfer forderte. Daß das Lager Petschora später aufgelassen wurde, lag schließlich an seiner Unwirtschaftlichkeit. Nicht einmal die rücksichtslose Ausbeutung der Häftlinge konnte in dieser unwirtlichen Gegend auf Dauer eine rentable Industrie begründen.
Diese Recension ist auch in factum 1/13 erschienen.
Photo: © Geier