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Weißmeerkanal


By Geier - Posted on 04 September 2011

4. September 2011

 


Abb. links:

»Kanalsoldat!

Von Deiner harten Arbeit wird Deine Gefängniszeit hinwegschmelzen!«

(im NKWD-Lager entstandenes Propagandaplakat)

 

 

 

Die »Pariser Tageszeitung« vom 31. Januar 1939, ein deutschsprachiges Exilantenblatt, vermeldete:

»Der Gestapo-Chef Himmler hat zum ›Tag der deutschen Polizei‹ eine Rundfunkrede gehalten, in der er mit frechem Zynismus die Konzentrationslager als eine gerade vorbildliche Einrichtung rühmte:
›Harte, Werte schaffende Arbeit, ein geregelter Lebenslauf, eine unerhörte Sauberkeit im Wohnen und in der Körperpflege, ein tadelloses Essen, eine strenge, aber gerechte Behandlung, die Anleitung, Arbeit wieder zu erlernen und Fähigkeiten handwerklicher Art dazuzugewinnen, sind die Methoden der Erziehung.‹«

Diese These von der Besserung des Gefangenen durch Arbeit findet sich kondensiert in dem Spruch »Arbeit macht frei«, der über dem Tor des wohl bekanntesten Konzentrationslagers in Auschwitz prangte.

Exakt das selbe Rechtfertigungsmodell finden wir aber auch gleichzeitig, ja schon etliche Jahre früher, für die sowjetischen Arbeitslager: Ab August 1918 wurden auf Anweisung Lenins die ersten Gefangenenlager errichtet, die offiziell tatsächlich auch »Konzentrationslager« hießen. Hier ging die Rede von der »perekowka«, dem »Umschmieden« des Strafgefangenen zu einem gebesserten, nützlichen Menschen. Es wurden sogar Gruppenreisen durch das Gulag-System — zum Beispiel zur Baustelle des Weißmeerkanals — für Schriftsteller organisiert, die hernach die Erfolge der perekowka in ihren Büchern und Artikeln preisen sollten. Dieses »Umgeschmiedetwerden« haben freilich viele Gefange nicht überlebt: Der Kanal ist buchstäblich mit Leichen gepflastert und die Schätzungen gehen auseinander, ob jeder einzelne Meter des 227 Kilometer langen Kanals ein Häftlingsleben gekostet hat oder doch »nur« jeder zehnte Meter — und dies letztlich für ein Prestigeobjekt mit wenig praktischem Nutzwert. Denn man konnte nun zwar herausstellen, daß die Verbindung von Weißem Meer und Ostsee, von der schon die Zaren seit dem 19. Jahrhundert geträumt hatten, durch den sozialistischen Fünfjahrplan endlich verwirklicht worden war, jedoch aufgrund der geringen Tiefe des Kanals — die miserablen Arbeitsbedingungen und das Fehlen moderner Werkzeuge und Materialien machten erhebliche Abstriche von den ursprünglichen Plänen nötig — war er für größere Schiffe nicht passierbar. Der Nutzen war also eher ein propagandistischer als ein ökonomischer.

Das Perfide an der Geschichte ist dabei: Die Besserung des Menschen durch Arbeit ist eigentlich durchaus ein biblisches Modell. Nach der ersten Straftat des Menschen, die unter der griffigen Bezeichnung »Sündenfall« bekannt wurde, bekommt dieser sofort ein Extrapensum aufgebrummt: Die Arbeit des Menschen wurde zur Mühsal, zum Gericht (1. M. 3, 17 — 19), das zu seiner Be-Richtigung dienen sollte:

Und zu Adam sprach er: Weil du auf die Stimme deines Weibes gehört und gegessen hast von dem Baume, von dem ich dir geboten und gesprochen habe: Du sollst nicht davon essen, so sei der Erdboden verflucht um deinetwillen: Mit Mühsal sollst du davon essen alle Tage deines Lebens; und Dornen und Disteln wird er dir sprossen lassen, und du wirst das Kraut des Feldes essen. Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zur Erde, denn von ihr bist du genommen.

Hier soll tatsächlich der Mann durch Arbeit »umgeschmiedet«, ja tatsächlich frei gemacht werden. Die Mühsal soll ihn daran erinnern, daß er sich nicht mehr in seinem schöpfungsgemäßen Normalzustand befindet, daß er gefallen ist. Sie soll ihn dazu anregen, den Rückweg zu Gott zu suchen. Der Reiche hingegen — und als reich gilt jemand, wenn er für den eigenen Lebensunterhalt nicht mehr persönlich arbeiten muß — wird uns deshalb als jemand vorgestellt, der in der Gefahr steht, Gott zu vergessen (Spr. 30, 8f):

Machtlosigkeit und Reichtum gib mir nicht; laß mich zerteilen das Brot, das mein Gesetzesteil, daß ich nicht ersatte und leugne und spreche: Wer ist Jahweh?, und daß ich nicht entrechtet werde und stehle und ergreife den Namen meines Elohim.

Arbeit hat in diesem Zusammenhang also ganz klar einen »therapeutischen« Sinn. Der Asozialität, die im Deutschen hauptsächlich mit Arbeitsscheu in Zusammenhang gebracht wird, kann man anhand des neutestamentlichen Griechischen noch einen anderen Schwerpunkt ablesen: άσωτία [Asotia] ist eine der eigenen Rettung (σωτηρία) [Soteria] entgegengesetzte Haltung. Die Wortstruktur verweist hier quasi nebenbei auf den geistlichen Wert, den es hat, sich unter die zugewiesene Arbeitslast zu beugen; der Asoziale, der dieser Last ausweicht, geht auch des rettenden Segens verlustig, der damit verbunden ist — wobei natürlich der Umkehrschluß falsch ist, daß man sich seine Rettung »erarbeiten« könne. Daß Arbeitsverweigerung Gottes Rettungshandeln entgegenwirkt, läßt sich nirgends deutlicher sehen als an der Zerstörung der Herausgerufenen[G] in den letzten Jahrtausenden, die unmöglich so effektiv hätte sein können ohne das riesige Heer derjenigen, die sich für’s Predigen bezahlen lassen, statt selbst durch Arbeit für ihren Unterhalt zu sorgen. 

Wenn man sich das eingangs erwähnte Himmler-Citat und das offizielle Perekowka-Konzept ansieht, könnte man nun bei oberflächlicher Betrachtung fast meinen, daß die nationalsozialistischen und sowjetischen Arbeitslager mit der Besserung des Straftäters durch Arbeit ein biblisches Prinzip kopiert hätten. Auf den zweiten Blick zeigt sich, daß nichts von der Wahrheit weiter entfernt sein könnte: Schon die große Sterblichkeitsrate (beim Weißmeerkanal je nach Schätzung zwischen 15 und über 70 Prozent) beweist, daß es hier überhaupt nicht um die »Besserung« von Menschen ging, sondern diese nur vorgeschobene Rechtfertigung war. Die gewöhnlichen Kriminellen waren dort ohnehin in der Minderheit; hauptsächlich dienten die Lager der Vernichtung mißliebiger Personen. Man beseitigte politische Gegner und unerwünschte Volksgruppen, indem man dafür sorgte, daß diese sich bei mangelhafter Versorgung unter unmenschlichen Bedingungen buchstäblich zu Tode arbeiteten. Außerdem schuf man sich auf diese Weise ein gigantisches Reservoire billigster Arbeitssklaven. So wurden zum Beispiel für den Bau des Weißmeerkanals zeitweise zielgerichtet Fachleute verhaftet, die nach Abschluß der Bauarbeiten dann wieder entlassen wurden. Als Grund für eine Verhaftung konnte jederzeit eine anonyme Denunziation herhalten, und die konnte bei Bedarf auch erfunden werden. Es sind die Arbeitslager des zwanzigsten Jahrhunderts niemals »Besserungsanstalten« gewesen, sondern einerseits Vernichtungslager zur gewaltsamen Veränderung der sozialen und ethnischen Struktur des jeweiligen Landes, andererseits ein Instrument sozialistischer Plan- und Zwangswirtschaft.

In China funktioniert dieses System noch immer: Es gibt zwei Arten von Arbeitslagern, in denen Gefangene als billige Sklaven Waren herstellen, die es zum Teil auch in deutschen Geschäften zu kaufen gibt: »Laogai« heißt »Reform durch Arbeit, »Laojiao« bedeutet »Umerziehung durch Arbeit«. Während in den Laogai-Lagern Gefangene arbeiten, die in einem Gerichtsverfahren verurteilt wurden, wird die Haft in einem Laojiao-Lager in einem Verwaltungsakt angeordnet. Bis zu vier Jahren kann diese Administrativhaft betragen, die für kleinere Vergehen wie Diebstahl oder Prostitution, aber auch für politische Vergehen oder Mitgliedschaft in einer nichtregistrierten Hausgemeinde von der lokalen Polizei einfach angeordnet werden kann: Ohne Anklage, ohne Prozeß, ohne rechtliches Gehör und Rechtsmittel, ja ohne daß das ganze System überhaupt einer Rechtsaufsicht unterstünde. So ist es nicht erstaunlich, daß es auch vorkommen kann, daß kriminelle Polizisten das System nutzen, um unbequeme Kritiker loszuwerden. Mao hatte diese Administrativhaft 1957 eingeführt, weil die regulären Gerichte die Verfahrensflut nicht bewältigen konnten, die aus dem politischen Willen der Kommunisten resultierte, China von allen politischen Abweichlern zu »säubern«. Gehalten hat sich dieses System bis heute.

 

 

 

 

Nachtrag 22. 12. 12: Janusz Tycner über den »Kanal des Todes«

 

 

 

Abb.: gemeinfrei

 

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