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Gewogen und zu schwer befunden …
15. Mai 2011
Schon vor längerer Zeit hatte ein Schweizer Leser angefragt, ob es denn christusgemäß sei, Übergewicht zu unterhalten. Inzwischen hatte ich auch eine Materialsammlung zum Thema angelegt, diese Woche bin ich dann wieder auf das Thema gestoßen worden, da sich nun »idea Spektrum« der Sache angenommen hat; leider erschöpft sich der idea-Artikel »Gefährliches Schlaraffenland« zum größten Teil im körperlichen Aspekt des Themas, widmet dem seelischen Teil einen Absatz und dem geistlichen gerade noch kurze Erwähnung. Schade. Denn gerade die biblische Sicht auf den »Selbstmord mit Messer und Gabel« birgt beachtlichen Sprengstoff. Ein commerzielles Produkt wie »idea Spektrum« muß hier aber wohl Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Abonnenten nehmen und wird deswegen nicht zu deutlich über persönlich zurechenbare Schuld schreiben. Schließlich gibt es unter Christen nicht weniger Dicke als unter Nichtchristen.
Trotzdem ist es zu begrüßen, daß sich idea des unpopulären Themas überhaupt angenommen hat. Denn wenn man sich sonstige Pressemeldungen ansieht, könnte man eher denken, die westliche Welt hätte ein Untergewichtsproblem. Bulimie und Magersucht werden regelmäßig referiert, obwohl dies Sache von wenigen Tausenden ist. Adiposität ist aber ein Problem vieler Millionen: Über die Hälfte der Deutschen ist inzwischen übergewichtig. Dies findet aber bei weitem keine verhältnismäßige und angemessene öffentliche Aufmerksamkeit. In Bezug auf Magersucht meldet sich sogar die Politik regelmäßig zu Wort, zum Beispiel mit Initiativen, um magersüchtige Models wegen ihrer angeblichen oder vielleicht auch tatsächlichen Vorbildwirkung aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Für sich selbst scheinen die Politiker in ungewohnter Selbstbescheidung allerdings keine ähnliche Vorbildwirkung zu sehen, zumindest habe ich noch nie von dem Bestreben gehört, übergewichtigen Politikern öffentliche Auftritte zu untersagen und analog zum Mindestgewicht für Models ein Höchstgewicht für Politiker einzufordern.
Immerhin hat Matthias Pankau für den idea-Artikel einige interessante Zahlen zusammengetragen: Daß für 68% aller Todesfälle ernährungsbedingte Krankheiten verantwortlich sind, woraus folgt, daß über eine halbe Million der jährlichen deutschen Todesfälle ganz oder teilweise durch falsche Ernährung verursacht sind. Daß innerhalb von hundert Jahren die durchschnittliche Laufstrecke von 14 Kilometern täglich auf einen Kilometer geschrumpft und der persönliche Energieverbrauch seit 1945 um 500 Kalorien zurückgegangen ist, was einer kompletten Mahlzeit entspricht — die freilich niemand tatsächlich einsparen mag. Die Verfügbarkeit billiger Nahrungsmittel ist so hoch wie nie, entsprechend hoch ist auch der Verbrauch. Übergewichtige verursachen dadurch 10 Prozent der Gesundheitskosten, ein Schaden von 17 Milliarden Euro jährlich.
Das Problem ist nicht auf Deutschland beschränkt. Ein österreichisches Portal meldete im vergangenen Jahr, daß die Amerikaner allein 2008 zehn Millionen gesunde Lebensjahre durch Fettleibigkeit verloren haben. Die Zahl der Raucher sei zwar von 1993 bis 2008 um 18,5 Prozent gesunken, gleichzeitig aber die der Übergewichtigen um 85 Prozent gestiegen. Während Raucher aber eher an ihrer Sucht sterben, leben Dicke länger mit den durch das Übergewicht verursachten Krankheiten und belasten dadurch die Krankenkassen stärker. Die jährlichen Zusatzkosten für die USA werden auf mehr als 200 Milliarden Dollar geschätzt. Verschiedene europäische und überseeische Städte vermeldeten in letzter Zeit, daß sie sich genötigt sehen, zusätzliche Krematorienöfen in Übergröße anzuschaffen, weil eine wachsende Zahl der Kremationswilligen einfach nicht in die Standardöfen paßt. Zusatzkosten z. B. für Cambridge: etwa 170.000 Euro, zu tragen vom Steuerzahler, in Stafford sogar 290.000. Auch in Neuseeland ist der Standard-Sarg schon um zehn Centimeter verbreitert worden.
Soweit also die gesellschaftliche Seite, die immerhin schon erkennen läßt, daß bei Überernährung, wie bei jedem anderen Suchtverhalten auch, neben der Selbstbeschädigung immer auch eine Schädigung anderer festzustellen ist, eine gewisse Form der Asozialität also, eine Tatsache, die allein schon genügen sollte, Christen zur Wachsamkeit anzuregen. Sehen wir uns aber den biblischen Befund an:
In Nehemijah 8, 10 wird das Volk aufgefordert, anläßlich eines großen Festes fette Speisen und süße Getränke zu sich zu nehmen und auch den Armen daran Anteil zu geben. Das, was heute Standard unserer täglichen Ernährung ist, war damals also eine seltene Ausnahme, und wir täten gut daran, es auch wieder dazu werden zu lassen.
Zunächst aber ist festzustellen, daß die Schrift einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und Hochmut erklärt. In Psalm 73 lesen wir über die Hochmütigen (Vers 3) und Stolzen (V. 6), daß sie eine wohlgenährte Statur haben (V. 4), daß sie sich nicht wie andere Menschen mühen, also daß sie weniger arbeiten als andere (V. 5), daß ihr Auge aus Fett hervortritt (V. 7), daß sie hochmütig reden, beim Volk beliebt sind und meinen, sich vor Gott nicht verantworten zu müssen (V. 8 — 11). Dieser Zusammenhang ist nicht schwer zu verstehen, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Hochmut ja Unbescheidenheit ist. Und diese Unbescheidenheit zeigt der Psalm hier in verschiedenen Lebensbereichen wie dem Reden und der Ernährung. Der Hochmütige meint, sich ein größeres Stück aus dem gesamtgesellschaftlichen Kuchen herausschneiden zu dürfen und obendrein weniger dafür leisten zu müssen als andere. Die Differenz zwischen Minderleistung und Mehrverbrauch lagert sich dann als Fettgewebe an. Seiner Beliebtheit tut die Beleibtheit keinen Abbruch (V. 10), im Gegenteil: Er gilt als gemütlich und umgänglich, denn seine eigene hedonistische Lebensweise verbietet es ihm natürlich, andere zu ermahnen. In seiner Nähe sind andere Faule und Hedonisten sicher vor Zurechtweisung. So läßt Shakespeare seinen Cäsar sagen:
»Let me have men about me that are fat;
Sleek-headed men and such as sleep o' nights;
Yond' Cassius has a lean and hungry look;
He thinks too much: such men are dangerous.«
(Laßt wohlbeleibte Männer um mich sein,
Mit glatten Köpfen und die nachts gut schlafen,
Der Cassius dort sieht schlank und hungrig aus;
Er denkt zuviel: die Leute sind gefährlich!)
Der Zusammenhang zwischen Körperfett und Hochmut wird auch in Ps. 17, 10 dargestellt und in Ps. 119, 69f. In der ersten dieser beiden Stellen wird sogar gesagt, daß die Hochmütigen an ihrem Fett festhalten, also ihren abnormen Zustand akzeptieren und begrüßen. Dazu paßt die amerikanische Fat-Acceptance- bzw. Fat-Pride-Bewegung, die Fettleibige als Opfer gesellschaftlicher Diskriminierung darstellt, ähnlich der Gay-Pride-Bewegung, die es ja in er zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts auch verstanden hat, Homosexuelle in der öffentlichen Wahrnehmung von aktiven Tätern in passive Opfer zu verwandeln.
Wohl wird der Ansatz, Übergewicht im Zusammenhang mit Hochmut zu sehen, nicht jedem denkbaren Einzelfall gerecht, es gibt mit Sicherheit auch Fälle krankheitsbedingter Abweichung vom Normalumfang. Da die Schrift hier aber offensichtlich mehrfach einen deutlichen Schwerpunkt setzt, kann auch nicht einfach darüber hinweggegangen werden, so als gäbe es diesen Zusammenhang überhaupt nicht. Kern der Überernährung ist mangelnde Selbstbeschränkung, die ja auch eine Form von Hochmut ist. Die Schrift setzt dem menschlichen Streben, sich jederzeit alles Greifbare einzuverleiben, die Demut des Fastenden entgegen, der sich selbst Grenzen setzt und dessen Fleisch demzufolge »ohne Öl« (Fett) ist (Ps. 109, 24).
Im Gegensatz zum Fasten als einer Form aktiver Selbstbeschränkung ist übermäßiges Essen eine Form der Selbstbelohnung bzw. der Selbstentschädigung. Der Hochmütige belohnt sich selbst — wobei das Essen hierbei nur eine von vielen möglichen Ausformungen ist — und bringt dadurch seine Unabhängigkeit und Undankbarkeit Gott gegenüber zum Ausdruck. Der Gescheiterte tröstet sich selbst durch unmäßiges Essen — der Volksmund spricht auch vom »Kummerspeck« — und bringt dadurch sein Mißtrauen, seinen Unglauben Gott gegenüber zum Ausdruck, von dem er keine Änderung seiner Situation erwartet, weswegen er sich innerhalb dieser Situation möglichst bequem einrichtet. Auch hier ist das Essen im Übermaß nur eine von vielen Möglichkeiten der Selbstentschädigung bzw. Selbsttröstung. Häufig muß man hier schon von einer Selbstaufgabe sprechen: Menschen, die mit ihrem Leben abgeschlossen haben, weil sie innerhalb ihrer Lebensspanne keine Verbesserungen mehr erwarten, essen häufig unmäßig. Sie haben jeden Kampfgeist verloren und jede Selbstdisziplinierung aufgegeben.
Den, der Übles leidet, weist Jakobos an, zu beten, den, der sich wohlfühlt, Psalmen zu singen (Jak. 5, 13). Viele essen aber, wenn sie leiden, um sich zu trösten. Geht es ihnen gut, essen sie, um sich zu feiern.
In einigen Kulturen ist Fett ein Statussymbol, das Reichtum und Macht ausdrückt: Der Dicke kann sich immer überreichlich zu essen leisten und er darf buchstäblich mehr Raum beanspruchen als die gewöhnlichen Menschen. Wer den breitesten Schatten wirft, erhält die meiste Anerkennung. In der Selbstsicht Übergewichtiger wiegt häufig nicht nur ihr Körper mehr als der anderer Leute, sondern auch ihr Wort — sie »stellen mehr dar« und scheinen deshalb nicht nur gewichtiger, sondern auch wichtiger zu sein.
Die Bevorratung von Reserven, die der reiche Kornbauer in seinen Scheunen hat (Lk. 12, 16 — 21), hat der Dicke in sich selbst hineinverlagert — nicht umsonst spricht der Volksmund von »Hüftgold«, oder davon, daß einem das, was man sich angefressen habe, niemand mehr wegnehmen könne. So ist Übergewicht auch geistliches Zeichen eigenen Autonomiestrebens.
Den Zusammenhang zwischen Fett und Selbstsucht benennt auch Hesekiel (Hsk. 34). Er prophezeit gegen die Hirten Israels, die sich selbst weiden (Vers 2) und Fett essen (V. 3). Deswegen will Jahweh selbst Recht schaffen: »Das Verlorene will ich suchen und das Versprengte zurückführen, und das Verwundete will ich verbinden, und das Kranke will ich stärken; das Fette aber und das Starke werde ich vertilgen« (V. 16). »Siehe, ich bin da, und ich werde richten zwischen fettem Schaf und magerem Schaf. Weil ihr all die Schwachen mit Seite und Schulter verdränget und mit euren Hörnern stoßet …« (V. 20ff). Der Vorwurf von Fett und Stärke trifft hier diejenigen, die ihre Stärke nicht in Jahweh haben, sondern aus sich selbst heraus, die im Fleisch Mächtigen, die Ichhaften, die Autonomen*, was sowohl auf der Leibesebene, der seelischen Ebene und der geistlichen Ebene verstanden werden muß.
Die zerstörerische Rücksichtslosigkeit von Übergewichtigen zeigt sich regelmäßig auch darin, daß sie Menschen in ihrem sozialen Umfeld zu übermäßigem Essen ermutigen. Sie fallen dadurch selbst mit ihrer Fülle und ihren Eßgewohnheiten weniger auf. Denn ein Übergewichtiger, der von anderen Dicken umgeben ist, erscheint in der relativen Sicht beinahe normal; die ersten Opfer, die auf diese Weise sozusagen »gemästet« werden, sind typischerweise die eigenen Kinder. In welchem Maße sich eine erbliche Prädisposition zum Übergewicht im Vergleich zu Lebensgewohnheiten auswirken kann, ist umstritten; nicht umstritten ist hingegen die Vererbung von schlechten Eßgewohnheiten von einer Generation auf die nächste. Falsche Vorbildwirkung wirkt sich hier jedenfalls stärker aus als die pure Genetik. Dies jedoch ist ein Fluch, der durchbrochen werden kann, indem man diesen Mechanismus aus der Grauzone des Unterbewußtseins ins Licht rückt. Denn auch die Täter wirken hier wohl in vielen Fällen unabsichtlich — zwar in schuldhafter Selbstgefälligkeit, aber ohne sich selbst über den Schaden, den sie anderen tun, klare Rechenschaft zu geben.
Ein Sonderfall, der auch in dieser »Grauzone des Unterbewußtseins« siedelt, ist das »strategische Fressen«, das in beschädigten Ehen vorkommt. Hier legt sich der Täter eine Speckschicht als »Abstandshalter« an, als Sperrschicht gegenüber dem Partner, mit der er Distanz erzwingt und Nähe demonstrativ vermeidet.
Auch Jeremijah stellt einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und Bosheit her (Jer. 5, 26ff):
»Denn unter meinem Volke finden sich Gesetzlose; sie lauern, wie Vogelsteller sich ducken; sie stellen Fallen, fangen Menschen.
Wie ein Käfig voll Vögel, so sind ihre Häuser voll Betrugs; darum sind sie groß und reich geworden.
Sie sind fett, sie sind glatt; ja, sie überschreiten das Maß der Bosheit. Die Rechtssache richten sie nicht, die Rechtssache der Waisen, so daß es ihnen gelingen könnte; und die Rechtssache der Armen entscheiden sie nicht.«
Auch hier geht es nicht um Monokausalität: Weder sind alle Dicken böse noch alle Bösen dick. Es wäre aber töricht, die biblischen Hinweise in Bezug auf dieses Problem, das so viele Menschen betrifft, zu mißachten, denn in vielen Fällen können diese zu einer hilfreichen Diagnose führen und den einen oder anderen zum Umdenken bewegen. Auch hier gilt, daß das Wort Gottes Heilung für den ganzen Leib ist (Spr. 4, 22).
Ein weiterer bemerkenswerter Fall ist der des Eli: Der Grund, daß das Gericht über sein Haus beschlossen wurde, war ja, daß Eli seine gottlosen Söhne nicht ausreichend zurechtwies, als Mittel, dieses Gericht an Eli zu vollziehen, benutzte Gott aber auch dessen Übergewicht: Als er stürzte, brach er sich das Genick wegen seiner Schwere, was tatsächlich besonders Erwähnung findet und deshalb auch nicht ohne Bedeutung sein kann (1. Sam. 4, 18). Mir ist ein zeitgenössischer Fall bekannt, da ein außerordentlich hochmütiger Mensch, der stürzen mußte, um womöglich zum Nachdenken zu kommen, besonders schwere Verletzungen davontrug, weil das zusätzliche Gewicht im fallen viel mehr Last auf die Knochen brachte als dies bei einem bescheideneren Gewicht der Fall gewesen wäre.
Nicht fehlen darf Philipper 3, 18f in einer biblischen Besprechung des Themas Übergewicht. Über diejenigen, die »Feinde des Pfahles[G] des Christos sind«, die also ihr geliebtes Ich nicht zu Tode bringen wollen, und die »auf Irdisches sinnen«, wird hier auch gesagt, daß »ihr Gott ihr Bauch ist«. Diese sind auf ihrem Weg von Selbsttröstung über die Selbstbelohnung also schon zur Selbstvergötzung gelangt. Die nächste Station ist die Selbstzerstörung.
Nachtrag: In einem eigenen Artikel gehe ich auf die Leserreaktionen zu diesem Artikel ein.
* die sich selbst [auto] ihre eigenen Regeln [nomos] setzenden
Photo: © Geier