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Durch die Tür oder über den Zaun?


By Geier - Posted on 30 September 2010

 

30. September 2010

 

 

 

 

Bei »Unwise sheep« habe ich wieder einen interessanten Vortrag von Paul Washer mit wertvollen Denkanregungen gefunden. Vieles, was er sagt, sollte selbstverständlich sein und doch wird es vielen erscheinen, als käme er mit seinen Ansichten aus einer fernen Galaxis. Ein Beispiel:

Was denkst du, würde ich tun, wenn ich eines Tages aus meinem Haus gehen würde, mit dem Ziel, in mein Auto zu steigen und zur Arbeit zu fahren. Aber mein Auto ist weg. Es ist einfach nicht da. Und ich suche den ganzen Tag danach, ich mache mir Sorgen — es ist mein Auto! Ich habe schließlich dafür bezahlt. Und dann, gegen vier Uhr nachmittags, kommst du in meinem  Auto angefahren. Und du springst aus dem Auto, wirfst mir die Schlüssel zu und du sagst: »Hey, danke Mr. Washer! Ich hatte viel Spaß«.  Wir würden zusammen ein ernstes Gespräch führen. Ich würde gerechterweise sehr ärgerlich sein. Nun, ich würde mich beherrschen.  Aber du hast mich verletzt. Du hast etwas Schreckliches getan. Rücksichtslos. Würdest du das einem Auto von einem Mann antun? Nein? Aber du würdest es seiner Tochter antun, nicht wahr? Du würdest eine Beziehung mit seiner Tochter eingehen, ohne es ihn überhaupt wissen zu lassen.

Du würdest nicht sein Auto nehmen, aber du wirst seine Tochter nehmen. Ich habe eine kleine Tochter. Habe ich euch erzählt, daß sie das schönste Mädchen auf der Welt ist? Das verletzt mich als Vater. Es gab mal eine Zeit, sogar in der europäischen Kultur, in der es so war, daß sie, wenn du das getan hättest, dich öffentlich ausgepeitscht hätten. Ist euch das bewußt? Weltliche Staatsdiener hätten dich öffentlich verprügelt. Und du wärest als ein entsetzlich unmoralischer Mann  betrachtet worden. Aber was die Welt noch vor einigen Jahrzehnten als erschreckend unmoralisch ansah, praktizieren wir jetzt als Christen ohne überhaupt nachzudenken. Habt ihr je in das Alte Testament geschaut? Denkt an Israel, wie es in den Tempel geht und Gott anbetet. Dann geht es  aus dem Tempel hinaus und geht zum Tempel des Baal und betet Baal an. Und dann richtet Gott es. Und es versteht nicht warum. Was ist das Problem? Wir lesen das und denken: Warum seid ihr so blind? Ihr habt Entsetzliches getan. Furchtbare Unmoral. Götzendienst. Wie kommt es, daß ihr es nicht sehen könnt? Erkennt ihr, daß wir das Gleiche tun? Wir brechen Grundsätze, an die sich sogar weltliche Ungläubige gehalten haben. Und wir können nicht verstehen, warum auf unseren Leben und unseren Gemeinden nicht der Segen Gottes liegt.

Das Problem, das Washer hier streift, hat seine Ursache darin, daß auch die meisten Christen heute das Menschenbild der Welt übernommen haben und das der Bibel gar nicht mehr kennen. Wenn sie überhaupt über das biblische Menschenbild nachdenken, dann über solche Begriffe wie Leib, Seele, Geist, Herz, Fleisch — und wie diese zueinander in Beziehung zu setzen sind. Und dann stellt man sich eine Person vor, ein Individuum, und versucht die ganze Begrifflichkeit der Bibel dareinzupacken — und scheitert dann prompt bei diesem Versuch. Ich kenne bisher niemanden, der hier ein schlüssiges Gesamtbild entworfen hätte, ohne daß sich dieses irgendwo mit knarzen, schleifen und rattern an der Bibel reibt. Eine Ursache besteht darin, daß die Bibel uns gar kein individualcentriertes Menschenbild vermittelt. Die biblische Begrifflichkeit und Systematik ist grundverschieden von unserem Schema. Die meisten von uns, wenn sie jemanden sehen, nehmen ihn als Einzelperson wahr. Wenn wir uns aber die biblische Sichtweise zueigen machen, nehmen wir einen anderen Menschen zuerst einmal als Teil des Hauses[G] wahr, dem er angehört.

Um an Washers Beispiel mit seiner Tochter zu bleiben: Sie ist eben nicht irgendein Mädchen, sondern sie ist eine Angehörige von Paul Washers Haus. Wenn ihr jemand nahetreten will, dann ist das eben nicht eine Angelegenheit zwischen zwei einzelnen Individuen, vielmehr ist das eine Angelegenheit zwischen zwei Häusern. Wer aber seinen Fuß in das Haus seines Nächsten setzen will, tut gut daran, durch die Tür hereinzukommen und nicht über den Zaun zu steigen oder durch das Fenster. Die Türfunktion für sein Haus hat aber Paul. Er ist als Haupt seines Hauses gesetzt. Am Haupt befinden sich Ohren, Augen und Mund — also die Organe, die zusammen mit dem Hirn darüber wachen, was in den Leib hineinkommt und was draußenzubleiben hat. Ein Haupt hat also immer auch eine Tür- bzw. Wächterfunktion. Wer nun an irgendetwas Interesse hat, das Paul Washers Haus zugehört — oder eben auch an irgendwem, der diesem Haus zuzurechnen ist — kann nicht an ihm vorbei. Legal jedenfalls nicht. Das kann schon deshalb gar nicht anders sein, weil es für Paul sonst unmöglich wäre, die Verantwortung wahrzunehmen, die ihm für sein Haus aufgetragen ist. Viele Christen nehmen aber heute offensichtlich materielle Dinge ernster als Menschen. Wie Washer richtig festgestellt hat: Kaum ein Christ würde sich jemandes Auto (oder auch nur ein Buch) borgen, ohne ihn zuvor höflich um Erlaubnis zu fragen. Bei Töchtern wie in dem citierten Beispiel, ja selbst bei Ehefrauen sind die Skrupel weit geringer ausgeprägt. Viele haben hier überhaupt keine Bedenken mehr. Sie haben sich dem individualistischen Menschenbild angepaßt und sagen: Wenn ich etwas von jemandem will, gehe ich ihn direkt an. Sie sehen nur das Individuum, sie sehen das Haus[G] überhaupt nicht, dem dieses Individuum angehört. Deswegen haben sie auch keinerlei Schuldbewußtsein, wenn sie dieserart in das Haus ihres Nächsten einbrechen: Es fehlt hier nahezu völlig an gesunder Belehrung. So gibt es die seltsamsten theologischen Verrenkungen, die dazu führen, daß das Gebot in 2. Mose 20, 17, das die Aufgabe hat, den Verantwortungsbereich eines Hauses umfassend und in jeder Hinsicht vor fremdem Zugriff zu schützen, in seiner Reichweite bis zur Bedeutungslosigkeit eingeengt wird.

Es ist ja durchaus nicht zu begründen, daß das Gebot — »… nicht begehrst Du das Haus Deines Beigesellten. Nicht begehrst Du die Männin Deines Beigesellten, noch seinen Diener, noch seine Amme, noch seinen Stier, noch seinen Esel, noch alles, was Deinem Beigesellten zueigen ist …« — soweit es hier die Männin betrifft, in Verständnis und Interpretation meist auf die Meidung von ehebrecherischem Beischlaf beschränkt wird. Auch herrscht oft die Meinung vor, daß sich dieses Gebot nur an Männer richten würde. Nur: Wo steht das? Wir finden solche Geltungsbeschränkungen nirgends im Text und sie sind weder biblisch noch logisch; es käme ja schließlich auch niemand auf die Idee, das selbe Gebot, soweit es sich auf den Schutz von Haus, Amme, Stier oder Esel bezieht, in dieser Weise einzuschränken. Trotzdem folgen hier viele einer Denktradition, die Geltungsbereich und Wirksamkeit dieses Wortes ausgerechnet dort, wo es dem Schutz des Weibes gilt, drastisch beschneidet. Geschützt wird durch Wortlaut und Sinn des Gebotes aber alles, was einem Hausstand zugehörig ist, in gleicher Weise. Denn da das Haupt dieses Hauses schließlich für alles Rechenschaft ablegen muß, ist es strikt untersagt, irgendetwas, wofür dieses Haupt verantwortlich ist (oder natürlich auch irgendjemanden aus diesem Autoritätsbereich), auch nur zu begehren — ein Gedanke, den Jesus in Mt. 5, 28 vertieft. Das Wort »begehren«, wie wir es im alttestamentlichen Hebräisch und im neutestamentlichen Griechisch finden, ist dabei durchaus nicht auf seinen erotischen Gehalt reduziert, sondern wird allumfassend in Bezug auf alle Lebensbereiche gebraucht. Das in Mt. 5, 28 verwendete Wort für begehren [έπιδυμέω (epithymeo)] findet zum Beispiel auch Verwendung in Lk. 15, 16 (er begehrte, gesättigt zu werden), Lk. 22, 15 (ich begehre, dieses Pesach mit Euch zu feiern), Hebr. 6, 11 (wir begehren, daß ein jeder von Euch den selben Fleiß erzeige) und in vielen anderen Zusammenhängen, die eindeutig belegen, daß der Inhalt dieses Begriffes ein allbezügliches Begehren beschreibt, ausdrücklich auch in positiven, geistlich gewünschten Zusammenhängen.

Kurz und gut: Was zur Haushaltung Deines Nächsten gehört, geht Dich prinzipiell nichts an, auch wenn Du die besten, scheinbar geistlichsten Absichten hast. Überhaupt nichts. Du sollst es nicht einmal begehrlich betrachten. Wenn Du aber etwas meinst zu benötigen — ein Buch, das Du lesen willst, ein Auto, das Du fahren willst, eine Tochter, die Du ehelichen willst oder sein Weib, das Dir in einer Angelegenheit zur Hand gehen soll — dann steige nicht über den Zaun, sondern komm zur Tür herein und frage den, der als Haupt darüber Rechenschaft geben muß.

Washer hat oben auf Zeiten verwiesen, wo jemand, der sich unerlaubt der Tochter seines Nächsten genähert hätte, öffentlich ausgepeitscht worden wäre. So lange muß man aber nicht einmal zurückgehen, um nachzuweisen, daß Christen heute regelmäßig rote Linien überschreiten, die früher selbst in der Welt noch akzeptiert waren. So konnte man z. B. noch in den fünfziger Jahren in Deutschland — also vor historisch sehr kurzer Zeit — keine Frau beschäftigen, ohne daß das Einverständnis ihres Mannes vorgelegen hätte: Vor dem Hintergrund der Zehn Gebote und des daraus resultierenden Schutzes des Hauses des Nächsten eine Selbstverständlichkeit. Aber kaum hat die Welt diese Position geräumt, ziehen die Christen nach und behandeln heute mehrheitlich die Frau ihres Nächsten wie eine »Öffentliche«, der man unerlaubt alle möglichen Anliegen antragen könne. Sämtliche diesbezüglichen Verbote der Schrift werden auf ihren erotischen Bestandteil (den sie ja zweifellos haben, der aber eben nur ein geringer Teil des Spektrums ist) reduziert und damit zu neunzig Prozent ihrer Wirksamkeit beraubt — ein typisches Beispiel, wie das Wort Gottes durch (Denk)traditionen ungültig gemacht wird. Petros nennt jene, die solche Grenzen nicht respektieren und von außen her in die Angelegenheiten anderer eingreifen, in einem Atemzug mit Mördern und Dieben (1. Petr. 4, 15).

 

 

Photo: © Geier

 

 

 

 

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